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Winternewsletter 2016

04.01.2016

Editorial

Liebe Leserinnen und Leser,

ich freue mich Ihnen unseren ersten Newsletter im Jahr 2016 zu präsentieren. Wir möchten Sie gerne wie gewohnt über Veranstaltungen, Gäste und die aktuellsten Entwicklungen am SFB 700 auf dem Laufenden halten.

Der Sonderforschungsbereich 700 kann auf ein gelungenes und produktives Jahr 2015 zurückblicken, in dem die Teilprojekte viele empirische Erkenntnisse hinzugewinnen und ihre Forschungsarbeiten weiter vorantreiben konnten. Da im Sommer und Herbst 2015 viele unserer Forscher/innen im Feld waren, ist es nun an der Zeit, die erhobenen Daten zusammenzutragen und auszuwerten.

In diesem Newsletter erwarten Sie daher u.a. Rückblicke und Ausblicke auf Veranstaltungen und Gastwissenschaftler/innen. Darüber hinaus berichten drei unserer Forscher über Ihre Feldforschungserfahrungen in Afghanistan, Kenia und Guatemala. Zu guter Letzt bekommen Sie einen Überblick über die neuesten Publikationen und Working Paper des Sonderforschungsbereichs.

Wir freuen uns wie immer auf Ihre Kommentare, wünschen Ihnen alles Gute für das Jahr 2016 und viel Spaß bei der Lektüre!

Herzliche Grüße

Ihr

Thomas Risse
Sprecher des SFB 700

Erneute Teilnahme des SFB 700 an Annual Convention der ISA

Der Informations- und Bücherstand des SFB 700 auf der 56. ISA Annual Convention 2015

Der Informations- und Bücherstand des SFB 700 auf der 56. ISA Annual Convention 2015

Im Zeitraum vom 16. – 19. März 2016 wird der Sonderforschungsbereich 700 zum wiederholten Male an der Annual Convention der International Studies Association (ISA) teilnehmen, welche dieses Jahr in Atlanta, Georgia stattfinden wird. Zur 57. Jahrestagung der ISA werden dieses Mal 11 Wissenschaftler/innen des Sonderforschungsbereichs nach Atlanta reisen und diverse Beiträge zum Themenbereich Governance und begrenzte Staatlichkeit leisten.

So wird zum Beispiel in einem vom SFB organisierten Panel gefragt “Areas of Limited Statehood: What Makes State and Non-state Governance Effective and Legitimate?”. Einen Überblick über alle Beiträge des SFB zur ISA 2016 finden Sie hier.

Wie schon in den vergangenen Jahren wird der SFB darüber hinaus mit einem Buch- und Informationsstand vertreten sein und seine Arbeiten vorstellen. Sie finden uns in der ISA Exhibit Hall des Hilton Hotels Atlanta am Stand 626.

Wir freuen uns außerdem, die Kolleg-Forschergruppe (KFG) „The Transformative Power of Europe“ der FU Berlin bei ihrem Empfang zu unterstützen, der sich an interessierte Gäste und Expert/innen, sowie Freundinnen und Freunde beider Institutionen richtet. Der Empfang findet am 16. März um 19:30 Uhr im Grand Ballroom D des Hilton Hotels Atlanta statt (einen Einladungsflyer finden sie hier). Auch dort wird der SFB mit einem Buch- und Informationsstand vertreten sein. Eine Zusammenfassung aller weiteren Aktivitäten der Kolleg-Forschergruppe auf der ISA 2016 finden Sie hier.

Wir sind gespannt auf eine weitere ISA Konferenz und würden uns freuen Sie zu unseren Veranstaltungen bzw. an unserem Buch- und Informationsstand begrüßen zu dürfen!

Rückblick auf die Gastwissenschaftler/innen 2015

v.l.n.r: Nicole Deitelhoff, Christopher Daase

v.l.n.r: Nicole Deitelhoff, Christopher Daase

v.l.n.r.: Steven Livingston, Enrique Desmond Arias

v.l.n.r.: Steven Livingston, Enrique Desmond Arias

Im vergangenen Jahr, konnte der Sonderforschungsbereich 700 in der zweiten Jahreshälfte verschiedenste Gäste im Haus willkommen heißen. Wir blicken zurück auf eine gelungene Zusammenarbeit mit Prof. Dr. Enrique Desmond Arias von der George Mason University, der die Forschung des Teilprojekts C3 „Police-building und transnationale Sicherheitsfelder in Lateinamerika“ und des gesamten SFBs während eines einmonatigen Forschungsaufenthalts im Juli 2015 bereicherte. Im Rahmen seines Aufenthalts hielt er einen Vortrag am Sonderforschungsbereich mit dem Titel „Criminal Organizations and Governance in Latin America and the Caribbean“ zu kriminellen Organisationen in Lateinamerika, wobei er den Begriff der „kriminellen Governance“ prägte.

Als weiterer Gastwissenschaftler forschte Prof. Steven Livingston (George Washington University, Oktober – Dezember 2015) im Haus. Steven Livingston stellte seine aktuelle Forschung in einem Vortrag mit dem Titel “Human Rights in Areas of Limited Statehood: Looking Beyond the Boomerang and Spiral Models“ am SFB vor. In seiner Präsentation sprach er über die Rolle neuer Technologien beim Schutz von Menschenrechten in Räumen begrenzter Staatlichkeit. Als ein Ergebnis seines Aufenthaltes erscheint sein Beitrag in der SFB Working Paper Serie mit dem Titel Digital Affordances and Human Rights Advocacy.

Zum Abschluss des Jahres konnten wir im Dezember 2015 Prof. Dr. Nicole Deitelhoff und Prof. Dr. Christopher Daase beide von der Goethe Universität in Frankfurt begrüßen. Prof. Deitelhoff und Prof. Daase forschten am SFB bis Ende 2015 zum Themenbereich politischer Zwang. Im Rahmen eines Vortrags am SFB stellten sie ihr neues Forschungsprojekt unter dem Titel „Zwingender Friede“ vor bei dem u.a. (nicht) gewaltsamer Zwang, Zwang von verschiedenen Akteuren und Zwangsdiplomatie eine zentrale Rolle spielen.

Wir möchten uns bei allen Gästen für die produktive Zusammenarbeit, die neuen Impulse und die Unterstützung des SFB 700 bedanken!

Gemeinsamer Workshop des Teilprojekts T3 und MISEREOR am SFB

Workshop „Engaging Armed Groups“ im Veranstaltungsraum des SFB 700

Workshop „Engaging Armed Groups“ im Veranstaltungsraum des SFB 700

Am 12. November 2015 fand unter dem Titel „Engaging Armed Groups: Options and Limitations of Mediating Brokerage“ ein Workshop in den Räumen des Sonderforschungsbereich 700 statt.

Die Veranstaltung wurde gemeinsam von MISEREOR und dem Transferprojekt T3 des SFB, das sich mit den Implikationen der Forschung des SFB 700 für die deutsche Außenpolitik beschäftigt und eng mit dem Auswärtigen Amt kooperiert, organisiert. Als Gäste nahmen Vertreter/innen staatlicher und nicht-staatlicher Organisationen aus den Philippinen und Myanmar teil, die von ihren eigenen Erfahrungen im Rahmen der Aushandlung von Friedensabkommen und der Einbindung externer Vermittler berichteten. Sie diskutierten mit zahlreichen Forschenden aus unterschiedlichen Teilprojekten des SFB 700, sowie Vertretern/innen des Auswärtigen Amtes.

Die Teilnehmenden besprachen u.a. Möglichkeiten und Grenzen, die Legitimität von Verhandlungsprozessen und Friedensabkommen durch die Einbindung nicht-staatlicher, militärischer Akteure zu erhöhen. Weitere Themen umfassten die Rolle der Zivilgesellschaft im Rahmen des Peace-Buildings, föderale Reformen als Antwort auf begrenzte Staatlichkeit sowie Rahmenbedingungen, die die Aushandlung eines nachhaltig wirksamen und legitimen Friedensabkommens unterstützen können.

Moderiert wurde die Diskussion durch Prof. Dr. Thomas Risse, Sprecher des SFB 700 und Dr. Gregor Walter-Drop, Projektleiter des Transferprojektes T3.

Polizeiaufbau, Prävention und politische Ordnung – Ein Feldforschungsbericht aus Guatemala

Überwachung und dezentralisierte Kontrolle: Präventionspolitik in Villa Nueva

Überwachung und dezentralisierte Kontrolle: Präventionspolitik in Villa Nueva

Im Teilprojekt C3 - Police-Building und transnationale Sicherheitsfelder in Lateinamerika befassen wir uns mit Security Governance-Transfers und der Bedeutung des historischen Erbes solcher Transfers für gegenwärtige Statebuilding-Interventionen. Hierzu untersuchen wir das Beispiel des transnationalen Polizeiaufbaus in Guatemala. Schnell wurde klar, dass es bei Polizeiaufbau in Guatemala um weit mehr geht als um die Reform der Polizei als Institution. In Zentralamerikas größtem Staat ist die Bandbreite internationaler Interventionen im Sicherheitsbereich enorm: Von Institutionenaufbau über capacity building hin zu „weichen“ Formen der Sicherheit, wie z.B. Community Policing-Strategien, wird auch die Stärkung lokaler Gemeinschaften von externen Akteur/innen im Namen der Bürgersicherheit gefördert.

Während Staaten wie die USA oder Kolumbien in Guatemala zwar weiterhin klassischen Polizeiaufbau betreiben, geht es zunehmend auch darum, ein „holistisches“ Sicherheitskonzept zu entwickeln. Letztlich ziele dieses, so erklärte mir eine USAID-Vertreterin bei meiner ersten Feldforschungsreise für das C3-Projekt im November 2012, auf die Rückeroberung des öffentlichen Raumes ab. Dies sollte in den nächsten Jahren zu einem neuen Paradigma der Sicherheitspolitik in Guatemala werden. Das Sicherheitskonzept, unter anderem beeinflusst von den Erfahrungen der USA in der Aufstandsbekämpfung in Afghanistan oder dem Kampf gegen kriminelle Gangs von Los Angeles bis Medellín, wird nirgendwo so deutlich umgesetzt wie in Villa Nueva. Diese südwestlich von Guatemala City gelegene Stadt, ein berüchtigter crime hotspot, spiegelt viele Trends liberalen Staatsaufbaus in der Region wider.

Neben „modernen“ Polizeistrategien wie Community Policing setzt der gegenwärtige Bürgermeister Villa Nuevas, Edwin Escobar, der sich Diskurse und Praktiken externer Akteure und Sicherheitsexpert/innen wie kaum ein zweiter in Guatemala zu eigen gemacht hat, auf institutionenübergreifende Kooperationen zwischen Polizeikräften und dem Militär und den Einsatz neuster Technologien von Überwachungskameras bis zu Smartphone-Apps. Auch die Bürger/innen Villa Nuevas nimmt der Bürgermeister in die Pflicht: über Hotlines, das Internet oder durch die Organisation in Präventions-Komitees sollen diese zur Informationsgewinnung über Kriminalität sowie zur Reduktion von Gewalt beitragen.

Bei Interviews mit Vertreter/innen der Dirección General de Seguridad Integral und mit community leaders aus verschiedenen Teilen Villa Nuevas sowie durch die Teilnahme an zwei Workshops zu Bürgersicherheit im Jahr 2014 und 2015, lernte ich den „integralen“ Sicherheitsansatz Villa Nuevas kennen. Dieser hat letztlich die (Wieder)herstellung einer flächendeckenden Präsenz des Staates zum Ziel. Er umfasst neben den genannten Maßnahmen auch Präventionsprojekte, die Freizeitangebote für von Gewalt „gefährdete“ und potentiell „gefährdende“ Jugendliche sowie die Neuordnung des öffentlichen Raums vorsehen.

Villa Nueva zeigt exemplarisch, wie transnational zirkulierende Sicherheitspraktiken und -diskurse lokal angeeignet und umgesetzt werden. Auch wenn US Vize-Präsident Joe Biden bei einem Besuch im März 2015 Villa Nueva zum regionalen Vorbild erklärte, sind die Konsequenzen von Bürgermeister Escobars Ansatz umstritten.

Erste Ergebnisse des C3-Projektes lassen unter anderem darauf schließen, dass transnationale Security Governance-Transfers historische Muster der Privatisierung von sozialer Kontrolle und Überwachung reproduzieren. Dies gilt insbesondere für diejenigen Programme und Projekte, die auf den Aufbau widerstandsfähiger (sogenannter „resilienter“) Gemeinschaften und Gewaltprävention abzielen. An diesen lässt sich exemplarisch zeigen, dass die Aneignung externen Expertenwissens zur Reproduktion einer exkludierenden Ordnung beitragen kann, begünstigt durch die mit Expertenwissen einhergehende Depolitisierung urbaner Security Governance.

Über den Autor:

Markus Hochmüller ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Teilprojekt C3 - Police-Building und transnationale Sicherheitsfelder in Lateinamerika. Dort befasst er sich aus feldtheoretischer Perspektive mit transnationalem Polizeiaufbau und Statebuilding in Guatemala.

Feldforschungsreise Nairobi und der Mythos des „capacity buildings“ bei der Pirateriebekäpfung am Horn von Afrika

Gastvortrag an der United States International University Nairobi

Gastvortrag an der United States International University Nairobi

Im Rahmen meiner Arbeit im Teilprojekt C11- Völkerrechtliche Beiträge zur Ermöglichung von Sicherheits-Governance durch externe Akteure in Räumen begrenzter Staatlichkeit am Sonderforschungsbereich 700 habe ich im Oktober eine Forschungsreise nach Nairobi (Kenia) durchgeführt. Das Teilprojekt C11 befasst sich mit der Frage wie die grenzüberschreitende Kriminalität, die oft aus Räumen begrenzter Staatlichkeit erwächst, am effektivsten bekämpft werden kann. Warum ist nun Kenia interessant? Das derzeitige Modell des internationalen Strafrechts siedelt die Hauptverantwortung für die Bekämpfung der transnationalen Kriminalität bei den Staaten an. Dabei regeln die Verträge, die sich mit bestimmten Kriminalitätstypen befassen, die Formen der Zusammenarbeit und wie sich ein Staat für zuständig erklären kann bzw. muss, um den oder die mutmaßlichen Täter durch seine Strafverfolgungsorgane und Gerichte zu verfolgen.

Kenia weckte dabei besonderes Interesse aufgrund der Pirateriebekämpfung am Horn von Afrika in den Jahren 2007 – 2014. Während sich westliche Staaten zumeist darum bemühten die Täter/innen auf der Hohen See durch den Einsatz ihrer Marine zu bekämpfen, wurde die Hauptlast der strafrechtlichen Verfolgung durch bilaterale Absprachen auf drei Regionalstaaten verteilt: Mauritius, die Seychellen und Kenia. Dabei hat Kenia mit Abstand die meisten Täter/innen verurteilt. Bis dato wurde das gegenwärtig gültige System noch nie in einer derartigen Quantität angewendet.

Obwohl seinerzeit angezweifelt wurde, dass Kenia dieser Aufgabe aufgrund seiner knappen Ressourcen und der dortigen Menschenrechtslage tatsächlich gerecht werden kann, wurde doch immer wieder argumentiert, dass die internationale Zusammenarbeit zu einer Form des capacity buildings im kenianischen Rechtssystem beitragen kann. Ziel der Forschungsreise war es dieses Argument zu untersuchen.

Im Besonderen interessierte mich dabei wie sich die Garantien, die sich die europäischen Staaten im Hinblick auf die Prozessgrundrechte durch ein Memorandum of Understanding von Kenia haben zusichern lassen, nun auch im kenianischen Strafrechtssystem widerspiegeln. Die Antwort auf diese Frage fällt ernüchternd aus. Denn obwohl diese Rechte nun in Artikel 49 – 51 dezidiert in der neuen Verfassung von 2010 aufgenommen wurden, lassen sie sich nach Meinung der meisten Interviewpartner/innen nicht auf die Pirateriebekämpfung zurückführen. Anschaulich wird dies beim Recht auf eine Pflichtverteidigung: Damit ein Strafverfahren den Ansprüchen eines fairen Verfahrens gem. Artikel 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention genügt, muss dem/der Beschuldigten das Recht auf eine/n Pflichtverteidiger/in zugestanden werden. Dies haben sich die EU Staaten von der kenianischen Regierung zusichern lassen. Doch obwohl auch Artikel 50 Absatz 2 lit. (h) das Recht auf eine/n Pflichtverteidiger/in gewährt, ist dies nur der Fall, wenn es ansonsten zu substantiellem Unrecht käme. Diese Voraussetzung wird von den Gerichten so gut wie nie festgestellt. Und so bleibt es dabei, dass das Recht auf eine/n Pflichtverteidiger/in praktisch nur in den Fällen gewährt wird, in denen dem/der Beschuldigten die Todesstrafte droht (bei Mord und Hochverrat).

Daneben war eine weitere interessante Erkenntnis, dass die kenianische Bevölkerung der Internationalen Strafgerichtsbarkeit (etwa in Form des ICC) keinesfalls so negativ gegenüber steht, wie ihre Regierung. Die beiden wesentlichen Erkenntnisse lassen sich also wie folgt zusammenfassen: Die internationale Kooperation im Rahmen der Pirateriebekämpfung hat zu keiner spürbaren Entwicklungshilfe für das kenianische Rechtssystem geführt. Damit ist dieses Argument, dass noch für den gültigen Rechtsrahmen spricht wiederlegt. Die kenianische Bevölkerung steht einer internationalen Strafgerichtsbarkeit eher positiv gegenüber, was dafür spricht, dass die Bevölkerung keineswegs die Auffassung der Regierung(en) teilt, es handle sich dabei um ein postkoloniales Instrument westlicher Staaten die alleine auf Afrika fokussiert seien.

Über den Autor:

Cedric Drescher ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Teilprojekt C11- Völkerrechtliche Beiträge zur Ermöglichung von Sicherheits-Governance durch externe Akteure in Räumen begrenzter Staatlichkeit und untersucht, inwieweit der gegenwärtig gültige Rechtsrahmen zur strafrechtlichen Verfolgung transnationaler Kriminalität auch im Kontext begrenzter Staatlichkeit geeignet ist.

Afghanistanforschung – Stimmungsbilder der afghanischen Gesellschaft in schweren Zeiten

Sicherheitspräsenz in Mazar-e Sharif während des Novruz-Festes 2015

Sicherheitspräsenz in Mazar-e Sharif während des Novruz-Festes 2015

Ich erforsche seit 2003 in Afghanistan gesellschaftliche Wandlungsprozesse unter Rahmenbedingungen, die von einer komplexen internationalen Intervention und einem Staatsgründungsprozess geprägt sind. Zunächst habe ich lokale Konfliktdynamiken in Nord- und Ostafghanistan analysiert und diese als heuristischen Schlüssel zur Erforschung der Dynamik gesellschaftlicher Ordnung genutzt.

Ab 2006 haben wir als Forscherteam des SFB 700, zusammen mit von uns ausgebildeten Kollegen in Afghanistan, ein Methodenbündel aus qualitativen und quantitativen Instrumenten zusammengestellt. Dies soll helfen die Wirkung der internationalen Intervention auf die Lokalgesellschaft systematisch über einen Beobachtungszeitraum von 12 Jahren zu erfassen. Kernstück dieses Vorgehens sind Umfragen, Profile und Interviews, die ich alle zwei Jahre zusammen mit den afghanischen Kollegen in mittlerweile 27 Distrikten Nordafghanistans durchführe. Die letzte Felderhebung dieser an den SFB 700 gebundenen Langzeitwirkungsforschung wurde von uns, dem Teilprojekt C9, im Frühjahr 2015 umgesetzt. Umsetzung und vorläufige Ergebnisse sollen in diesem Beitrag kurz umrissen werden.

Der Feldzugang ist seit der ersten Erhebungswelle 2007, als ich selbst noch alle unsere damals 80 Untersuchungsdörfer besuchen konnte, erheblich schwieriger geworden – nicht nur für mich, sondern auch für die afghanischen Teamkollegen. Im ländlichen Afghanistan muss der Zugang zu Dörfern in der Regel immer zunächst mit Dorfvertretern besprochen und manchmal auch lange verhandelt werden, alleine um als Fremder nicht auf unverschleierte Frauen im Dorf zu stoßen. Seit der Taliban-geleiteten Intervention in strategisch wichtigen Distrikten des Nordens nach 2007 ist die lokale Sicherheitslage zusehends unübersichtlicher geworden.

Unsere erste Umfrage 2007 hatte ergeben, dass die Taliban kein Einflussfaktor waren, dass der (negative oder positive) Einfluss von den ehemals mächtigen informellen Lokalkommandeuren der alten Anti-Taliban-Allianz massiv zurückgegangen war und dass sowohl die ISAF Präsenz (internationales Militär) als auch die im Aufbau befindlichen afghanischen Sicherheitskräfte von der überwältigenden Mehrheit der Befragten als positiv gesehen wurden.

Seitdem hat sich vieles verändert. Den Taliban gelang es 2009-2010 und wieder nach 2012 nicht nur staatliche Präsenz aus Teildistrikten zurückzudrängen, sondern in einigen Gebieten auch dauerhaft eigene Governance-Leistungen, wie z.B. islamische Rechtsprechung und –durchsetzung, jenseits der bloßen Gewaltkontrolle anzubieten. Die ISAF Präsenz wurde zwischen 2010 und 2012 noch einmal verdoppelt, um die Taliban zurückzudrängen und die Ausbildung der afghanischen Sicherheitskräfte zu forcieren. Das geschah allerdings vor dem Hintergrund der von den USA erklärten Absicht, bis Ende 2014 weitgehend abgezogen zu sein. Die staatlichen Sicherheitskräfte und die subnationale Verwaltung übernahmen bis 2014 tatsächlich schrittweise die volle Sicherheits- und Regierungsverantwortung in allen Distrikten, waren damit aber durch den anhaltenden Druck der Taliban oft überfordert. Deshalb wurden verstärkt regierungsnahe lokale Milizen gegründet, die den Staat darin unterstützen sollten, Territorien gegen die Aufständischen zu verteidigen. Dieses Milizprogramm war zunächst weitgehend informell und wurde dann vermehrt als Afghan Local Police (ALP) der Distriktpolizei unterstellt. Das Programm hatte in jedem Fall den Effekt, dass die alten sogenannten Jihadi-Lokalkommandeure des Bürgerkrieges und der Anti-Taliban-Allianz der 1990er Jahre wieder stark an Einfluss gewannen.

Diese Trends spiegeln sich auch in unseren Umfragen und Interviews von 2007 bis 2015 wieder, allerdings nicht immer so, wie von uns zunächst erwartet wurde:

Für die ISAF brechen die Umfragewerte zu einer positiven Sicherheitswirkung massiv ein, gleichzeitig steigt die Angst vor den Internationalen Kräften stark an. Obwohl die Nationalen Sicherheitskräfte zunächst zunehmend mit ISAF operierten und später die Verantwortung für Kampfeinsätze übernahmen, bleibt das Vertrauen in eine positive Sicherheitswirkung für sie kontinuierlich bestehen und Angstwerte steigen von sehr niedrigem Niveau nur leicht an. Dies zeigt, dass die Transition der Sicherheitsverantwortung eine Entscheidung war, die auch von vielen Afghanen begrüßt wurde. Allerdings heißt eine positive Einschätzung noch nicht, dass die Bevölkerung den eigenen Kräften auch zutraut, auf sich alleine gestellt effektiv für Sicherheit sorgen zu können. Hier sind die Menschen pessimistischer. Nur ein Drittel der Befragten glaubt daran und weist in qualitativen Interviews darauf hin, dass dies von einem politischen Friedensprozess und der weiteren Unterstützung durch das Ausland abhängt.

Milizen zeigen, von einigen Ausnahmen abgesehen, eine gute subjektive Sicherheitswirkung nur dann, wenn sie formalisiert und dem Staat zugeordnet sind. In einigen Distrikten haben Milizen aber auch zu der Gewaltwillkür geführt, die wir vermehrt erwartet hatten und die den Taliban mancherorts erst Einfallstore eröffnet haben.

Die Taliban überzeugen als Governance-Akteure die Lokalbevölkerung nicht. Das gilt auch für die Kernbereiche, in denen sie gegen den Staat antreten, nämlich in Sicherheit und Rechtsprechung. Hier bleibt aber zu vermerken, dass die staatliche Justiz in Sachen Rechtsprechung nach wie vor in den Augen der Bevölkerung schlicht versagt.

In Sachen „Output-Legitimität“ ist der Staat in den letzten Jahren lokal weiter unter Druck geraten, wobei sich jedoch Entwicklungsmaßnahmen deutlich positiv auf die dem Staat zugeschriebene Fähigkeit zur Problemlösung auswirkten. Die Sichtbarkeit der staatlichen Administration ist in den letzten Jahren stetig gestiegen.

Diese Ergebnisse von C9 reflektieren die Situation vor dem temporären Fall von Kunduz im September 2015, der für viele Afghanen ein Schock war und die Zuversicht in die Fähigkeit des Staates und die Bereitschaft der Taliban, eine Befriedung voranzubringen, getrübt hat.

Die Trends der vergangenen Jahre zeigen aber, dass der (eigene) Staat gerade in gewaltoffenen Räumen begrenzter Staatlichkeit weiterhin als Versprechen auf Befriedung attraktiv ist und möglichen lokalen Funktionsäquivalenten wie den Taliban oder dem Kommandeurssystem für die Governance-Leistung „Sicherheit“ vorgezogen wird. Gleichzeitig werden weniger kritische Governance-Probleme wenn möglich über lokale gesellschaftliche Institutionen gelöst.

Über den Autor:

Dr. Jan Koehler ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Teilprojekt C9 - Aid, Minds, Hearts: A Longitudinal Study of Governance Interventions in Afghanistan des SFB 700, welches sich mit effektiver und legitimer Governance im Nord-Osten Afghanistans beschäftigt. In diesem Rahmen untersucht Jan Koehler gesellschaftliche Wandlungs- und Staatsgründungsprozesse unter Einwirkung externer Akteure in der Region.

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Kontakt

Freie Universität Berlin
Sonderforschungbereich (SFB) 700
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Tel.: +49-30-838 58502
E-Mail: sfb700@fu-berlin.de

Web: www.sfb-governance.de
Redaktion: Eric Stollenwerk/Alexandra Konzack/Julius Neu

Leitung des SFB 700

Sprecher: Prof. Dr. Thomas Risse
Sprecher: Prof. Dr. Stefan Rinke
Wiss. Geschäftsführer: Eric Stollenwerk, M.A.

Forschungsprogramm des SFB 700

Governance ist zu einem zentralen Thema sozialwissenschaftlicher Forschung geworden. Der SFB 700 fragt nach den Bedingungen von Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit, d.h. in Entwicklungs und Transformationsländern, zerfallen(d)en Staaten in den Krisenregionen der Welt oder, in historischer Perspektive, verschiedenen Kolonialtypen.

Die Hauptforschungsfragen des SFB 700 sind:
Unter welchen Bedingungen entsteht effektives und legitimes Regieren in Räumen begrenzter Staatlichkeit?
Welche Probleme gehen damit einher?
Welche Auswirkungen kann eine so verstandene Governance auf nationale und internationale Politik haben?

Der SFB 700, gefördert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), hat seine Arbeit 2006 aufgenommen.
 

Partnerorganisationen des SFB 700