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Ausführliche Projektbeschreibung

Das Teilprojekt untersucht frühmittelalterliche Institutionen und Governance-Modi in den Bereichen Recht, Sicherheit und Ordnung. Frühmittelalterliche Reiche waren durch zunehmende Unsicherheit und Gewaltbereitschaft (fehlendes Gewaltmonopol), überhandnehmende Selbsthilfe (Fehden), das Nebeneinander unterschiedlicher ethnischer Gruppen (Franken, Burgunder, Römer usw.) mit jeweils eigenen Rechtstraditionen, Legitimationsschwächen im Bereich von Geltung und Erlass genereller Normen, lokale Eigenmacht, die nachlassende Alphabetisierung der Gesellschaft, sprachliche Barrieren zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen sowie die drohende Fragmentierung religiöser und kirchlicher Strukturen gekennzeichnet. Aufgrund der territorial, sektoral und ethnisch-kulturell eingeschränkten Fähigkeit zur Regel(durch)setzung und des eingeschränkten Gewaltmonopols sind frühmittelalterliche Reiche in Anlehnung an die vom SFB herausgearbeiteten Konfigurationen als “Räume begrenzter Staatlichkeit“ zu bezeichnen.

Im Zentrum der Untersuchung steht das Frankenreich, das zwischen dem 6. und 9. Jahrhundert ausgehend von den gallischen und germanischen Provinzen des römischen Imperium sein Herrschaftsgebiet massiv nach Osten und Süden erweiterte, um im 9. Jahrhundert weite Teile Westeuropas zu umfassen. Zeitliche Schwerpunkte bilden seine Konsolidierung im 6. Jahrhundert und intensivierte Ansätze zur Stabilisierung der Verhältnisse um 630 und um 740. Je nach thematischer Ausrichtung werden Entwicklungen bis ins 9. Jahrhundert mitberücksichtigt, um die umfassenden karolingischen Reformmaßnahmen als Testfall für die Effektivität der älteren Konsolidierungsansätze betrachten zu können (à SFB-Ziel 3: Effektivität und Legitimität von Governance).

Das Teilprojekt geht davon, dass die Zeit der fränkischen Reichsgründung als eine Periode zu verstehen ist, in der es zu einem nachhaltigen Umbau antiker Staatlichkeits- und Rechtstraditionen kam. Dem Recht und der Etablierung rechtsförmlicher Verfahren bei der Lösung von Konflikten und der Herstellung normativer Erwartungssicherheit fiel, so die Ausgangshypothese, eine zentrale Rolle zu, um die neue Herrschaft zu legitimieren. Das Teilprojekt fragt, was frühmittelalterliches Regierungshandeln unter den gegenüber der Antike veränderten Bedingungen leistete, worin sein Regelungsanspruch und Legitimationsgrund bestand und welche Möglichkeiten solches Regierungshandeln besaß, über die bloße Selbstperpetuierung von „Herrschaft“ hinaus steuernd und gestalterisch aktiv zu werden. Inwieweit gelang es durch die rechts- und sicherheitspolitischen Maßnahmen, die zwecks Etablierung der „rule of law“ ergriffen wurden, neue Institutionen und ordnungsstiftende Governance-Diskurse zu etablieren, die auf veränderten Geltungsgrundlagen, neuartigen prozeduralen Mechanismen sowie einem reduzierten staatlichen Regelungsanspruch beruhten (à SFB-Ziel 4: Aneig­nungs- und Abwehrprozesse)?

Zur Beantwortung dieser Fragen untersucht das Teilprojekt die Delegation von Hoheitsrechten, Mechanismen der Selbstbindung, die Kommerzialisierung von Gerichtsrechten sowie den Transfer von Rechtswissen im Hinblick auf ihre Funktion, Sicherheit herzustellen, Normen zu begründen bzw. neu zu legitimieren und den Primat rechtsförmlichen Konfliktaustrags zu etablieren. Dabei wird jeweils gefragt, in welchem Umfang neuartige Modi der Handlungskoordination regionale kulturelle und rechtliche Traditionen berücksichtigten, um mittels weniger hierarchisch angelegter Steuerungsweisen in lokale Strukturen verändernd eingreifen zu können (à SFB-Ziel 1: Modi der Handlungskoordination und Machtverhältnisse). Die Übertragung hoheitlicher Aufgaben und materieller Ressourcen an lokale Akteure, die bis dahin nicht oder kaum Träger der Bereitstellung von Governance-Leistungen gewesen waren, wird im Sinne der Mehrebenenproblematik daraufhin untersucht, zu welcher Verschränkung von Handlungsebenen dies führte und welche Folgen es für die Transformation dessen hatte, was man in antiker Zeit dem ius publicum zugerechnet hatte. Auch wird im Einzelnen geprüft, inwieweit es trotz solcher Partizipationschancen eröffnenden und stärker auf dem sozialen Substrat sowie religiösen Normierungen aufruhenden Steuerungsformen notwendig blieb, im Sinne des „Schattens der Hierarchie“ an einer Letztverantwortlichkeit des Königtums als zentraler politischer Gewalt festzuhalten (à SFB-Ziel 2: Staatlichkeit als Kontextbedingung von Governance). Mit Blick auf die Effektivität der durchgeführten Maßnahmen wird danach gefragt, inwieweit in Governance-Diskursen thematisierte Normen und Verfahren sich als gesellschaftlich, kulturell und sprachlich übersetzbar erwiesen und gegebenenfalls die Herausbildung neuer kollektiver Identitäten bedingten (à SFB-Ziel 3: Effektivität und Legitimität von Governance).

Ausgangssituation des Teilprojekts

Die historiographische Diskussion um den epochalen Übergang von der Antike zum Mittelalter ist gerade im Bereich von Staatlichkeit und Recht lange Zeit von national geprägten Urteilen bestimmt gewesen, wonach die – mit den Deutschen gleichgesetzten – Germanen der weströmischen Staatlichkeit ein abruptes Ende bereitet und aus ihren Stammestraditionen heraus einfachere, „mittelalterliche“ oder „feudale“ Reiche etabliert hätten. In der neueren Forschung haben sich zwei Positionen etabliert, die diese Interpretation relativieren bzw. in Frage stellen. In bewusst radikaler Abkehr von Traditionen der älteren germanisch-deutschen Verfassungsgeschichte und „Feudalisierungstheorien“ der französischen Forschung (dazu Landau et al. 1991; Barthélemy 1997; Oexle 2002) postulieren manche Forscher eine bruchlose römische Kontinuität im Bereich von Fiskal- und Militärwesen (Durliat 1990; Bachrach 2001). Andere nehmen eine vermittelnde Position ein und zeigen beispielsweise die Grenzen der römischen Kontinuität auf (Goffart 1972, 2006; Wickham 1993, 2002, 2006; Weitzel 2002, Murray 2006; auch Fried 1982; Jussen 1997; Althoff 1999) oder raten dazu, das Wesen der Übergangsgesellschaften nicht allein aus der Perspektive einer angenommenen epochal verankerten „longue durée“ zu charakterisieren (Reynolds 1994; Barthélemy 1997; Kasten 1998). Das Ausmaß der nach dem Ende des weströmischen Reiches in dessen ehemaligen westlichen Provinzen eingetretenen Veränderungen ist somit nach wie vor umstritten. Doch es entsteht zunehmend Konsens darin, dass es für deren Verständnis wenig hilfreich ist, die frühmittelalterlichen politischen Gebilde pauschal als „Germanenreiche“ zu charakterisieren – die Akkulturationsprozesse waren zu komplex, als dass eine Charakterisierung von Staatlichkeit und Recht allein oder auch nur vorwiegend nach ethnischen Gesichtspunkten heute noch befriedigen könnte (Kroeschell 1995). Vielmehr müssen umgekehrt die nachrömischen Reichsgründungen als Orte neuer ethnischer Formationsprozesse verstanden werden (Pohl/Diesenberger 2002; Postel 2004; Plassmann 2006; Coumert 2007).

Ausgangspunkt für eine differenzierte Einschätzung ist u.a. die Beobachtung, dass Staatlichkeit und Recht im Frühmittelalter gegenüber der spätrömischen durch einen geringeren Regelungsanspruch gekennzeichnet waren. Auch wenn die politische Organisation des spätrömischen Imperium nicht in allen Hinsichten den Kriterien moderner Staatsdefinitionen genügt (Reinhard 2000; Breuer 2001; Roth 2003), so weist sie dennoch auffallend viele Merkmale auf, die es nahelegen, ihren institutionellen Charakter im historischen Vergleich als außerordentlich hoch zu bewerten, weshalb sie von historischer Seite sogar als „Zwangsstaat“ charakterisiert worden ist (Heuss 1986; Pitz 2001). Zu nennen sind hier etwa der ausdifferenzierte Verwaltungsstab (Noethlichs 1981) mit einer vielfältig gestuften, bis auf die lokale Ebene herabreichenden politischen Raumgliederung, ein hochkomplexes, z. T. abstrakt konzipiertes Besteuerungssystem (Brandes 2002), eine differenzierte, in erheblichem Maß kodifizierte Rechtsordnung (Matthews 2001) sowie der bis zuletzt (476) aufrechterhaltene Anspruch des weströmischen Staates auf die alleinige Ausübung legitimer Gewalt (Gizewski 1988; Wetzler 1997).

In nachrömischer Zeit reduzierte sich dieser Regelungsanspruch erheblich, sichtbar etwa an dem deutlich zurückgenommenen Strafanspruch des Staates (Weitzel 2002), der partiellen Legitimierung von rechtlicher Selbsthilfe und Fehde (Meyer 2002) sowie einer weitreichenden Dezentralisierung der Münzprägung (Hendy 1987; Strothmann 2008). Ebenso unstrittig ist, dass in frühmittelalterlicher Zeit an die Stelle eines das römische Imperium reichsweit recht einheitlich erfassenden Rechtssystems, welches in spätrömischer Zeit kodifiziert worden war, ein schwierig zu durchschauendes Nebeneinander unterschiedlicher überregionaler und lokaler, vielfach mündlich tradierter „Rechtsgewohnheiten“ trat (Guterman 1972, 1990; Kroeschell 1995; Dilcher et al. 1992; Dilcher/Distler 2006; Vollrath 1981, 1995; Weitzel 1985; Auzepy/Saint-Guillain 2009). Vergleichende Untersuchungen zur Konfliktlösung in frühmittelalterlichen Reichen (Davies/Fouracre 1986) heben besonders die Bedeutung des lokalen Herkommens sowie der regionalen Kräfte- und Besitzverhältnisse hervor (vgl. auch Davies/Fouracre 1995) und betonen, dass lokale urkundliche Quellen in dieser Hinsicht ein ganz anderes Bild zeichnen als generelle normative Regelungen. Mit Blick auf das rechtliche Verfahren ist die Bedeutung genossenschaftlicher (Vollrath 1982; Weitzel 1985) und konsensualer Elemente akzentuiert worden (Nehlsen-von Stryk 1981; Barnwell/Mostert 2003; Modzelewski 2006). Weiterhin wird davon ausgegangen, dass seit dem Frühmittelalter auch verschiedene Rechtsbegriffe nebeneinanderstanden, beispielsweise solche, die eher vom materiellen Recht bestimmt waren, neben primär am Verfahren orientierten Rechtsbegriffen (Ebel 1975; Kroeschell 1995; Cordes/Kannowski 2002). Das in den sog. „germanischen Rechtsaufzeichnungen“ bzw. „Volksrechten“ seit dem 6. Jahrhundert schriftlich niedergelegte Recht wird nicht mehr ohne Weiteres als ungebrochener Ausdruck uralter germanischer Rechtstraditionen verstanden, sondern als Niederschlag einer rechtlichen Mischkultur mit zahlreichen Anleihen aus dem sog. römischen Vulgarrecht (Nehlsen 1971; Siems et al. 1995). Vor dem Hintergrund der Rezeption römischer Rechtstraditionen sind auch Ansätze zur Veränderung des Rechts mittels genereller Erlasse zu sehen, deren Erfolg freilich eher skeptisch beurteilt wird (La giustizia 1995; Mordek 2000; Patzold 2005).

Forschungen zur politischen Geschichte des frühen Mittelalters haben die Relevanz von Versammlungen (Barnwell/Mostert 2003; Eichler 2007), von promissorischen Eiden (Oexle 1985; Kolmer 1991; Holenstein 1991; Becher 1993, 2006; Auzepy/Saint-Guillain 2009) sowie vertraglichen Elementen in der Ausgestaltung der politischen Beziehungen herausgearbeitet (Hannig 1982; Apsner 2006), weshalb das Erklärungsparadigma der politischen Integration große Bedeutung für die Beschreibung der frühmittelalterlichen Verhältnisse erlangte (Postel 2004; Maleczek 2005; Airlie/Pohl/Reimitz 2006). Viele neuere Studien differenzieren den Begriff „Herrschaft“ unter Hinzunahme abstrakter Leitideen wie „Integration“, „Konsens“ etc. und betonen das situative Element (Schneidmüller 2000; Deutinger 2006; Patzold 2007). Das große Interesse, welches Rituale, Spielregeln, Formen symbolischer Kommunikation sowie informelle Mechanismen der Konfliktlösung in jüngerer Zeit gefunden haben (Geary 1995; Althoff 1997, 2003; Kamp 2001), beschränkt sich zu wesentlichen Teilen auf die Interaktion zwischen König und Adel, während die Frage, ob sich diese Modelle auch auf die lokale Präsenz politischer Herrschaft anwenden lassen, insbesondere von rechtshistorischer Seite skeptisch beurteilt wurde (Cordes/Kannowski 2002). Untersuchungen, die ein Regierungshandeln thematisieren, welches über aktuelle Bedürfnisse hinaus längerfristige strukturelle politische Ziele verfolgte, und die jenseits der Kommunikation zwischen König und Adel eine weitergehende, auch die lokalen und peripheren Verhältnisse begrenzter Staatlichkeit berücksichtigende Perspektive einnehmen, stellen daher ein Desiderat dar.

Hier setzt das Teilprojekt an, indem es danach fragt, was frühmittelalterliches Regierungshandeln unter den gegenüber der Antike veränderten Bedingungen leistete, worin sein Regelungsanspruch und Legitimationsgrund bestand und welche Möglichkeiten solches Regierungshandeln besaß, über die bloße Selbstperpetuierung von „Herrschaft“ hinaus steuernd und gestalterisch aktiv zu werden (à SFB-Ziel 1: Modi der Handlungskoordination und Machtverhältnisse). Das Projekt betritt damit insofern Neuland, als mit Hilfe der Konzepte der Governance-Forschung die Möglichkeit eröffnet wird, entgegen einer in der Mittelalterforschung verbreiteten pauschalen Ineinssetzung von Wesen und Zweck des Politischen als „Herrschaft“ eine differenziertere Sichtweise zu entwickeln. Auch die oben beschriebene Dominanz von Forschungskategorien wie „Staat“ und „Staatlichkeit“ soll auf diese Weise kritisch hinterfragt werden. Konzepte der Governance-Forschung (Risse/Lehmkuhl 2007, Beisheim/Schuppert 2007) stellen hierzu ein heuristisches und analytisches Instrumentarium bereit, welches eine Lektüre vieler Quellen gegen die bisherige Lesart ermöglicht, ein besseres Verständnis von „Regierungshandeln“ im frühmittelalterlichen Zeitraum fördert und die Herausbildung zahlreicher Institutionen, die gemeinhin als „mittelalterlich“ gelten, in einem anderen Licht erscheinen lässt.

In den Blick zu nehmen sind dabei zunächst Besonderheiten der Übergangssituation, welche den Hintergrund für die Entwicklung spezifischer Regierungsaufgaben und -methoden und die Formierung neuer Akteursqualitäten abgeben. Kennzeichnend für derartige Situationen des politischen Übergangs und Herrschaftswandels sind u. a. ein akuter Handlungs- und damit Legitimationsbedarf im Bereich von Sicherheit und Ordnung, das Aufkommen neuer Eliten bei tiefgreifenden ethnischen Unterschieden und die durch Unsicherheit und Eroberungssituation bedingte Umstellung des gesellschaftlichen Wertesystems auf stärker kriegerisch dominierte Leitvorstellungen (à SFB-Ziel 3: Effektivität und Legitimität von Governance).

In den einstigen, z. T. hochentwickelten Provinzterritorien des römischen Gallien und Germanien traten die neuen Herren mit einer schmalen militärischen Führungsschicht einer großen Bevölkerungsmehrheit mit anderem, überwiegend römischen Hintergrund gegenüber, weshalb erhebliche Unterschiede im Nebeneinander verschiedener sozialer, ethnischer und religiöser Gruppen die Gesellschaft des Frankenreiches prägten. Die stärkere gesellschaftliche Fragmentierung und der insgesamt reduzierte Regelungsanspruch der neuen Herrschaft rückt Fragen nach der Funktionstüchtigkeit lokaler Governance-Institutionen und nach der Integration lokaler Governance-Akteure in den Mittelpunkt. Der Fokus des Teilprojektes auf Governance-Modi im Bereich von Recht, Sicherheit und Ordnung ermöglicht es, die Zeit der fränkischen Reichsgründung als eine Periode zu verstehen, in der es zu einem nachhaltigen Umbau antiker Staatlichkeits- und Rechtstraditionen kam. Dem Recht und der Etablierung rechtsförmlicher Verfahren bei der Lösung von Konflikten und der Herstellung normativer Erwartungssicherheit fiel, so die Ausgangshypothese, eine zentrale Rolle zu, um die neue Herrschaft zu legitimieren.

Der Umbau der antiken Staatlichkeit soll im Unterschied zur bisherigen Forschung nicht nur als rechtliche Besiegelung eingetretener sozialgeschichtlicher Veränderungen verstanden werden, sondern als Folge eines bewusst unternommenen Versuches, unter veränderten politischen und sozialen Bedingungen bestimmte „Basisfunktionen“ von Regierungshandeln zu gewährleisten (von Trotha 1997), die der „rule of law“ dienten. Dieser Umbau bedeutete die Wendung von stärker zentralistischen Staatlichkeitskonzepten und Regierungsmethoden hin zu elastischeren, eher delegierenden als zentralisierenden, private und lokale Akteure einbeziehenden und häufig auf indirektem Wege Wirkung entfaltenden Governance-Modi, die durch ein höheres Maß an Partizipation lokaler Bevölkerungsgruppen gekennzeichnet waren und die insgesamt stärker auf dem sozialen Substrat lokaler Kommunitäten und ihrer Führungsgruppen aufruhten. Dabei wird untersucht, inwieweit Governance-Modi dem Beharrungsvermögen lokaler Traditionen Rechnung trugen und in welchem Umfang diese Modi Normen und Verfahren generierten, die sich gesellschaftlich, kulturell und sprachlich als übertragbar und konsensfähig erwiesen (à SFB-Ziel 4: Aneignungs- und Abwehrprozesse in Räumen begrenzter Staatlichkeit). Für die historische Forschung verspricht diese Zugangsweise einen differenzierten und konstruktiven Zugang zum fränkischen Frühmittelalter als einer Epoche nicht nur eigenen Rechts, sondern auch spezifischer Problemstellungen, deren Lösungen teilweise langfristige Bedeutung erlangen sollten.

Planung des Teilprojekts

Das Projekt untersucht die Legitimität von Institutionen und Governance-Modi, mittels derer im Übergang von der stärker institutionalisierten spätrömischen zur deutlich reduzierten frühmittelalterlichen Staatlichkeit Governance-Leistungen in den Bereichen Recht, Sicherheit und Ordnung erbracht wurden. Die Delegation von Hoheitsrechten, Mechanismen der Selbstbindung, die Kommerzialisierung von Gerichtsrechten sowie der Transfer von Rechtswissen werden hinsichtlich ihrer Funktion untersucht, Normen zu begründen und rechtsförmlichen Konfliktaustrag zu ermöglichen. Eine besondere Berücksichtigung finden dabei kulturelle Gegebenheiten und die Frage nach der Einbeziehung lokaler Akteure.

Das Projekt sucht die Regierungsformen in frühmittelalterlichen Reichen konstruktiv als einen ernstzunehmenden Versuch zu interpretieren, unter gewandelten Bedingungen antike Traditionen partiell fortzuführen und sie zu verändern, um handlungsfähige und dauerhafte politische Gebilde zu generieren. Der schrittweise Zerfall der spätrömischen Staatlichkeit fungiert dabei als Kontext für die Untersuchung der Art und Weise, mit der die neuen Machthaber Governance-Leistungen bereitstellten, die für die Akzeptanz ihrer Herrschaft und den dauerhaften Bestand ihrer Reiche essentiell waren (à SFB-Ziel 1: Modi der Handlungskoordination und Machtverhältnisse). Besonderes Augenmerk gilt dabei den rechts- und sicherheitspolitischen Maßnahmen, die zwecks Etablierung der „rule of law“ ergriffen wurden, d.h. um die Ordnung zu stabilisieren, gewaltfreien Konfliktaustrag zu ermöglichen und die Rechtssicherheit zu erhöhen. Inwieweit gelang es, Governance-Institutionen im Bereich des Rechts zu etablieren, die auf veränderten Geltungsgrundlagen, neuartigen prozeduralen Mechanismen sowie einem reduzierten staatlichen Regelungsanspruch beruhten?

Die in der hier zu analysierenden Übergangsphase erlassenen und angewandten Normen und Verfahren offenbaren eine eigenartige Mischung und Überlagerung unterschiedlicher Rechtsvorstellungen, durch deren Synthese man die aktuellen Probleme zu regeln suchte. Aus diesem Grund ist nach den institutionellen und diskursiven Transfer- und Aneignungsprozessen ebenso zu fragen wie nach möglichen Abwehrreaktionen, in denen man sich auf altes lokales Herkommen berief (à SFB-Ziel 4: Aneignungs- und Abwehrprozesse). Die Analyse des Zusammenspiels zentraler und lokaler Trägergruppen (Mehrebenenproblematik) trägt der diesem Zusammenspiel inhärenten kulturellen und ethnischen Faktoren in besonderem Maße Rechnung. In welcher Weise berücksichtigten die induzierten Institutionen und Governance-Modi die lokalen kulturellen und rechtlichen Traditionen? Inwiefern beeinflussten die lokalen kulturellen und rechtlichen Traditionen die zur Anwendung kommenden Governance-Modi, z.B. in der Form, dass weniger hierarchisch im Sinne von herrschaftlicher Steuerung regiert wurde? Welche Rolle spielten dabei Formen nicht-hierarchischer Handlungskoordination, z.B. Steuerung durch diskursive Praktiken oder Steuerung durch Symbole?

Im Sinne der Mehrebenenproblematik ist dabei auch zu klären, in welchem Umfang es zur Übertragung hoheitlicher Aufgaben an lokale Potentaten als Governance-Akteure kam, die bis dahin nicht oder kaum Träger der Bereitstellung von Governance-Leistungen waren, und inwieweit dies mit lokalen Erwartungshaltungen korrespondierte. Mit Blick auf den „Schatten der Hierarchie“ ist zu analysieren, inwieweit es trotz solcher Entwicklungen hin zu „weicheren“, die lokalen Machtverhältnisse berücksichtigenden Steuerungsformen notwendig war und gelang, an einer Letztverantwortlichkeit des Königtums als zentraler Gewalt festzuhalten und diese zu vergegenwärtigen (à SFB-Ziel 2: Staatlichkeit als Kontextbedingung von Governance). Hinsichtlich der Effektivität dieser Governance-Modi ist zu prüfen, ob diesen ein möglichst hohes Maß an Verbindlichkeit und Akzeptanz verliehen und damit die normative Erwartungssicherheit erhöht werden konnte (à SFB-Ziel 3: Effektivität und Legitimität von Governance).

Systematisch stehen dabei vier Institutionen und Governance-Modi im Mittelpunkt. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass mit ihrer Hilfe kurz- und längerfristig Sicherheit erhöht und „rule of law“ durchgesetzt werden sollte:

(1)   Selbstbindung und Kontraktualität als Geltungsgründe von Regierungshandeln und Rechtsleben;

(2)   Delegation von Funktionen und Rechten;

(3)   Frühmittelalterliche Geldstrafen;

(4)   Ermittlung, Übersetzung und Transformation normativen Wissens.

(1) Selbstbindung und Kontraktualität als Geltungsgründe von Regierungshandeln und Rechtsleben

Im mittelalterlichen Recht wurde viel stärker als im antiken römischen Recht die Gültigkeit von Normen und Rechtshandlungen dadurch gewährleistet, dass die Betroffenen sich selbst auf die Einhaltung bestimmter Regeln verpflichteten. Dies gilt z. T. für die Herrscher selbst, die feierliche Erklärungen abgaben, gerecht regieren und die Rechte ihrer „Untertanen“ respektieren zu wollen. Es trifft noch mehr zu für den Bereich der politischen Organisation und der Rechtsdurchsetzung. Eine zentrale Rolle spielten dabei promissorische Eide. Beispielsweise wurde in den meisten Reichen die Bevölkerung mehr oder weniger regelmäßig dazu angehalten, ihrem König einen Treueid zu schwören. Aus diesem Akt der Selbstbindung wurde dann die Befolgung bestimmter Regeln im Hinblick auf die rechtliche Anerkennung des Königtums abgeleitet, die materiell z.T. aus dem römischen Recht stammen (Anschluss an das Majestätsverbrechen), und zwar auch und gerade von den Nicht-Römern. Eine wichtige Funktion dieses Eides bestand offenkundig darin, Fremdbestimmung in Selbstzwang zu überführen und auf diesem Wege in bestimmten Bereichen einen Rechtstransfer zu ermöglichen. Zugleich bedingte dies jedoch, dass die Geltung und Legitimität des Rechts zunehmend kontraktuell und weitaus stärker in der religiösen Sphäre verankert wurde und dass für den subjektiven Verpflichtungsgehalt einer Norm Faktoren wie Ehre, Reputation u.ä. im lokalen Kontext an Bedeutung gewannen (vgl. für die Analyse gegenwärtiger Entwicklung B7 Schuppert). Ähnliches lässt sich auch im Bereich des Gerichtsverfahrens beobachten, wo die Durchsetzbarkeit von Urteilen sehr häufig darauf gründete, dass diese unter Partizipation einer größeren Gerichtsöffentlichkeit getroffen und die Parteien sich vor dieser Öffentlichkeit selbst dazu verpflichteten, das ergangene Urteil anzunehmen und auf eine weitere gewalttätige Verfolgung der eigenen Interessen zu verzichten; aus dieser Selbstverpflichtung heraus wurde das Urteil dann vollstreckt, so dass hier eine Stärkung nicht-hierarchischer Formen der Rechtsdurchsetzung zu beobachten ist. Zugleich lassen Beweismittel wie der Reinigungseid mit Eidhelfern eine Einbeziehung verwandtschaftlicher und anderer Gruppen in das Verfahren der Konfliktbeilegung erkennen.

Die Untersuchung dieses Themenfeldes, welches auf das Ineinandergreifen von hierarchischer Steuerung und Selbstbindung zielt, erfolgt unter fünf Leitfragen. Das Themenfeld leistet einen besonderen Beitrag zum SFB-Ziel 1: Modi der Handlungskoordination und Machtverhältnisse und zum SFB-Ziel 3: Effektivität und Legitimität von Governance:

(a)   In welchem Verhältnis standen das Handeln der Regierenden und deren Funktionsträger auf der einen und die Selbstbindung der davon Betroffenen auf der anderen Seite, d.h. wie weit musste staatliches Handeln gehen, um eine wirksame Selbstverpflichtung der Beteiligten zu veranlassen? Hat die stärkere Kontraktualisierung rechtlicher Formen verbesserte Möglichkeiten zum Rechtstransfer eröffnet?

(b)   Wie ging man in Anbetracht der Tatsache, dass in Schwureinungen (coniurationes) ohne Einflussnahme der Regierung sich Personen verschiedener Herkunft und von unterschiedlichem Status mit einander „verbrüderten“, um ihre Sicherheit in eigener Regie zu organisieren, mit dem Problem konkurrierender Loyalitäten um? Zu welcher Ausdifferenzierung und zu welchem Abgleich unterschiedlicher Treuevorstellungen kam es in diesem Zusammenhang?

(c)    Inwieweit hat die eidliche Bindung der Bevölkerung an den Herrscher Auswirkungen auf die Entwicklung kollektiver Identitäten gehabt und Prozesse der (Re-)Ethnisierung befördert? Welche Funktion und Bedeutung hatte der Rekurs auf metaphysische Legimitationsformen, etwa im Kontext des Bemühens, jenseits bestehender ethnischer und anderer innergesellschaftlicher Grenzziehungen bestimmte materielle oder prozedurale Normen gesamtgesellschaftlich zu legitimieren? Welche Auswirkungen hatte es für das Rechtsverständnis einer Gesellschaft, wenn prozedurale Mechanismen wie Eid oder Gottesurteil in ein Wertesystem eingebettet wurden, das religiöse und soziale Bindungen kombinierte und mit unterschiedlichen Sanktionen (auch kirchlichen wie der Exkommunikation) operierte?

(d)   Inwieweit hat die Tatsache, dass die Gültigkeit von Normen stärker auf Reputation vor Ort gestützt war und den lokalen Sozialstrukturen (Gerichtsgemeinden, Familienverbände etc.) durch Partizipationsmöglichkeiten Rechnung trug, die Ausbildung und Prägung lokaler Identitätsdiskurse (Betonung lokalen Rechts, regionaler Selbstverwaltung sowie des Herkommens und der Gewohnheit) bestimmt?

(e)   Welche Bedeutung kommt prozeduralen Elementen zu für die Stabilisierung wechselseitiger normativer Erwartungen? Inwieweit hat dies zu einer Traditionalisierung rechtlicher Normen geführt?

(2) Die Delegation von Funktionen und Rechten als Methode frühmittelalterlicher Sicherheits- und Rechtspolitik

Das spätrömische Imperium hinterließ seinen Nachfolgern innerhalb ihres jeweiligen Herrschaftsgebietes eine Vielzahl von Hoheitsrechten und Ressourcen, etwa Steuer-, Zoll-, Markt- und Münzrechte, Monopole, fiskalische Güter und Anrechte auf Arbeitsleistungen der Bevölkerung (z. B. beim Straßenbau). Diese materiellen Ressourcen bilden ein wesentliches Substrat für die Etablierung neuer Governance-Institutionen und -Modi in nachrömischer Zeit. Unter den fränkischen Nachfolgern kam es zur dauerhaften Übertragung vieler dieser Rechte an lokale Potentaten, zu denen neben eigentlich „staatlichen“ Funktionsträgern zunehmend Personen und Institutionen traten, die einen eher „privaten“ Charakter hatten (z. B. Vasallen als Governance-Akteure) oder bis dato mit staatlichen Aufgaben dieser Art noch nicht betraut gewesen waren (etwa Kirchen und Klöster, die eigene Milizen aufbauten u.a.m.). Dieser auf Integration lokaler Notabeln zielende Delegationsprozess, der schließlich sogar in der Übertragung von Gerichtsrechten und Teilen der Militärrekrutierung gipfelte, ist als Ausdruck nachlassender Zentralstaatlichkeit und der Übertragung von Regierungsaufgaben auf im eigentlichen Sinne nicht-staatliche Akteure zu interpretieren, wofür in vielen Fällen auch Gegenleistungen seitens der Begünstigten verlangt wurden – z.B. Kriegsdienst gegen äußere Feinde. Gleichzeitig ist in diesem Zusammenhang ein Bemühen zu erkennen, durch „staatliche“ Anerkennung von Patronatsbindungen die lokale Mobilität bestimmter Bevölkerungsgruppen zu kontrollieren, „Zwischeninstanzen“ auf diese Weise zu stärken und mittels Verleihung sog. „Immunitäten“ rechtlich von der Intervention der „ordentlichen“ Administration abzuschirmen. Zur Durchführung der Delegation von Hoheitsrechten bediente man sich der Rechtsform der Abtretung bzw. Zession, die eigentlich aus dem römischen Recht stammte. Dabei war der Gedanke entscheidend, dass delegierte Rechte immer hierarchisch abgeleitet blieben und dass der Beliehene immer dann, wenn der Leihgeber verstarb, diese Rechte feierlich erneuern musste. Auf diese Weise erhielten die Beziehungen der Regierung zu den Governance-Akteuren einen ausgeprägten personalen Charakter.

Eine besondere Bedeutung hatte unter den materiellen Governance-Ressourcen die leihweise Übertragung von (fiskalischem) Land („Proto-Lehnswesen“) durch das Königtum, die in ihren Wechselwirkungen mit der Abtretung von Steuerheberechten und Renteneinkommen zu berücksichtigen ist. Dies gilt auch für die Integration kirchlicher Einrichtungen (Bischofskirchen und Klöster) in die Wahrnehmung politisch-administrativer und militärischer Aufgaben, deren Funktionseliten in der Regel lokalen Führungsschichten entstammten und die eigene Milizen unterhielten, für deren Unterhalt ihnen – gleichsam als Empfängerkollektiv einer organisierten Grundherrschaft – fiskalische Güter und Einkünfte überwiesen wurden. Es trifft aber auch für die Ausübung von Gerichtsbarkeit auf lokaler Ebene zu, wo jurisdiktionelle Funktionen häufig mit Besitzrechten verbunden wurden.

Auch die dem antiken Kirchenrecht widersprechende Teilprivatisierung kirchlicher Strukturen, die es Laien ermöglichte, auf eigenem Grund und Boden Kirchen zu errichten (sog. Eigenkirchen), ist vor dem Hintergrund der Intention zu untersuchen, in weniger erschlossenen Gebieten eine Art „spirituelles Unternehmertum“ zu erleichtern und dafür den Bruch mit etablierten Rechtsprinzipien partiell in Kauf zu nehmen.

Fokussiert auf die Themenstellung des SFB ist dieses Themenfeld unter sechs Leitfragen zu untersuchen, die das SFB-Ziel 2: Staatlichkeit als Kontextbedingung von Governance, das SFB-Ziel 4: Aneignungs- und Abwehrprozesse in Räumen begrenzter Staatlichkeit sowie das SFB-Ziel 6: Materielle Ressourcen und Governance adressieren:

(a)   Inwieweit konnte es mithilfe solcher Instrumente gelingen, die Bereitstellung von Governance-Leistungen auf lokaler Ebene zu gewährleisten und den Prozess der Delegation hoheitlicher Aufgaben an nicht-staatliche Funktionsträger kontrolliert, d.h. unter formaler Rückbindung an die Autorität der verleihenden Institution ablaufen zu lassen? Besaß eine auf Rechtsverleihungen im Einzelfall rekurrierende Politik insgesamt größere Durchsetzungschancen als eine Politik, die auf dem Erlass genereller Normen basierte?

(b)   In welchen Situationen, aufgrund welcher Initiative, in welchem Umfang und zu welchem Zweck kam es jeweils zur Delegation solcher Aufgaben? Welche Rechte und Funktionen wurden zügig und bereitwillig, welche eher zurückhaltend und zögernd delegiert?

(c)    Inwieweit diente die leihweise Übertragung von Grundbesitz und anderen materiellen Ressourcen nicht nur dazu, Funktionsträger und nicht-staatliche Akteure handlungsfähig, sondern diese im Falle ihres Fehlverhaltens auch haftbar machen zu können?

(d)   Wie viel Staatlichkeit musste im Sinne des „Schattens der Hierarchie“ als Basis erhalten bleiben, in welchem Umfang musste die zentrale Gewalt (i.e. der König und sein Hofstab) noch direkt vor Ort intervenieren bzw. bis zu welchem Grad konnte man lokale Kommunitäten sich selbst überlassen? Welche Bedeutung hatte im lokalen Kontext für die örtlichen Führungsgruppen die Legitimation von außen bzw. durch denjenigen, der als Verleiher dieser Rechte die Letztverantwortung trug, bei der Formalisierung und Neustrukturierung von „Machtverhältnissen“ vor Ort?

(e)   Welche Konkurrenzsituationen entstanden zwischen nicht-staatlichen, aber nun formal anerkannten Trägern von Governance-Leistungen und den staatlicherseits durch die Übertragung von Ämtern hierfür eigentlich vorgesehen Funktionären?

(f)     Inwieweit haben derartige Delegationen, da die lokalen Akteure diese Rechte mit ihren autogenen Rechten zu verbinden trachteten, zu einer Verschiebung der Grenzziehung zwischen „öffentlich“ und „privat“ geführt? Gelang es auf diese Weise, verändernd in die lokalen Sozialstrukturen einzugreifen, oder führte die Übertragung der Verfügungsgewalt über Leistungen und Arbeitskraft Dritter an lokale Potentaten eher zur Stärkung bereits vorhandener lokaler Abhängigkeitsverhältnisse?

(3) Funktionalität und Dysfunktionalität frühmittelalterlicher Geldstrafen

Der strafrechtshistorischen Forschung gilt die Epoche des Übergangs von der Antike zum Mittelalter als Zeitalter des Wandels vom peinlichen Strafrecht des spätantiken Staates zum gelockerten Strafrecht des frühen Mittelalters, für das eher Geldstrafen charakteristisch waren. Der Bereich der rechtsförmlichen Konfliktlösung und Herstellung von Rechtsverbindlichkeit erfuhr in nachrömischer Zeit eine eigenartige Ausdifferenzierung, die sich als ausgeprägte Kommerzialisierung von Gerichtsrechten, Verfahrensweisen und Strafen fassen lässt. Auch diese Entwicklung ist mit nachlassenden staatlichen Garantien und sinkenden Durchsetzungsmöglichkeiten staatlichen Handelns gegenüber familiären und anderen Verbänden erklärt worden. Sie soll hier jedoch aus der Intention der neuen Machthaber erklärt werden, unter gewandelten Bedingungen die Bereitstellung einer wesentlichen Governance-Leistung zu garantieren. Im Sinne des Governance-Konzepts erscheint die Fiskalisierung von Strafen als eine anreizstimulierende Strategie, in Zeiten begrenzter staatlicher Interventionsmöglichkeiten gleichsam auf monetärem Wege die Beilegung von Konflikten zu gewährleisten und die Verbindlichkeit rechtlicher Vereinbarungen zu erhöhen. Die Höhe der für die Tötung, Verletzung und Beleidigung einer Person zu entrichtenden Geldbußen wurde dabei nach ethnischer Herkunft (Franken, Burgunder, Römer, Alemannen etc.), Geschlecht und Familienstand sowie ständischer Position (Sklaven – Freie – Funktionsträger – königliches Gefolge, Kleriker – Laien) differenziert. Ebenso wurden in Privatverträgen dieser Zeit sehr häufig Konventionalstrafen zugunsten des Fiskus ausgesetzt, um ggf. offizielle Funktionsträger zur Intervention zu bewegen.

Die Untersuchung dieses Themenfeldes erfolgt unter vier Leitfragen, deren Bearbeitung einen Beitrag insbesondere zur Analyse von SFB-Ziel 4: Aneignungs- und Abwehrprozesse in Räumen begrenzter Staatlichkeit undSFB-Ziel 5: Von der Produktion privater Güter zur Bereitstellung von Governance leisten wird:

(a)   Inwieweit konnten Geldstrafen Anreize verschaffen, in Konfliktformen, die sich zwischen Gruppen vollzogen, Drittinstanzen einzuschalten und lokale Akteure durch Übertragung offizieller Funktionen zur Bereitstellung von Governance-Leistungen im Bereich der Schaffung und Durchsetzung von Recht (z.B. durch Ladungsgebühren und exekutorische Gelder in Gestalt der Zwangs- und Bannrechte) zu motivieren? In welchem Umfang haben die zu „staatlichen“ Funktionsträgern erhobenen lokalen Potentaten über ihre Beteiligung an den einzutreibenden Geldbußen ein materielles Eigeninteresse entwickelt, sich in die Verfolgung von Straftaten, die Lösung von Konflikten und die Einhaltung von Verträgen einzuschalten und so die Erwartungssicherheit hinsichtlich der Durchsetzung des Rechts zu erhöhen?

(b)   Bis zu welchem Grad vermochte ein kommerzialisiertes Bußensystem die inneren Grenzziehungen und Abstufungen der Gesellschaft abzubilden? In welchem Umfang schien es ratsam, die sozialen und kulturellen Voraussetzungen von Governance zu respektieren und Verwandtschaft und Ethnos als Reputationsverbände eher zu stärken? Wo eröffneten sich Spielräume für eine aktive Rechtspolitik?

(c)    In welchem Umfang konnte die Kommerzialisierung des Strafwesens eine Beschränkung von Fehdehandlungen sowie gewaltfreien Konfliktaustrag ermöglichen? Inwieweit erwies sich dieses Bemühen als vereinbar mit den sozialregulativen Leitvorstellungen der Gesellschaft wie Rang und Ehre von Personen, Familienverbänden und sozialen Gruppen?

(d)   Inwieweit haben Geldstrafen ihrer sozialen Logik nach Tendenzen zur Geldleihe und zur Bereicherung verstärkt? In welchem Umfang wurde im Kontext von Korruptions-, Geldleihe- und Wucherdiskursen auch das Zusammengehen „öffentlicher“ und „privater“ Interessenlagen problematisiert und die Frage nach Unabhängigkeit und Überparteilichkeit der Justiz thematisiert?

(4) Ermittlung, Übersetzung und Transformation normativen Wissens

Die Kommunikationssituation in den nachrömischen Reichen kennzeichnete ein Nebeneinander unterschiedlicher Sprachgruppen, eine stark im Rückgang befindliche Alphabetisierung und Verwaltungsschriftlichkeit sowie eine ausgeprägte Mündlichkeit elementarer Verfahrensabläufe innerhalb des Rechtslebens. Dem steht – in scheinbarem Widerspruch – die Tatsache gegenüber, dass sämtliche Rechtsaufzeichnungen, die für Angehörige von Ethnien des germanischen Sprachkreises auf dem Kontinent entstanden, in lateinischer Sprache verfasst wurden. Hierin ist nicht nur ein Nachwirken der antiken Rechtskultur sowie der römischen Verwaltungstradition zu sehen, sondern mehr noch die prägende Kraft des Lateinischen als einer Fachsprache des Rechts. Um lokale Rechtstraditionen garantieren zu können, mussten diese vielerorts in offiziellen Ermittlungsverfahren vor Ort aufgrund mündlicher Befragung festgestellt, verifiziert und in lateinischer Sprache aufgezeichnet werden. Umgekehrt bedurfte es, um die römische Verwaltungs- und Rechtstradition auch nur ansatzweise in Gebieten anwendbar zu machen, in denen die Bevölkerung des Lateinischen nicht mächtig war, der Übersetzung rechtlicher Begriffe, damit verbundener Konzepte und expliziter Bestimmungen. Der Kommunikationsprozess zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Funktionsträgern mit der Bevölkerung bedingte eine mehrfache Überschreitung der Grenzen zwischen Latein und Volkssprache sowie zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Auch entsprechende Maßnahmen der karolingischen Bildungs- und Schriftreform stehen teilweise im Kontext dieses Bemühens, relevante Diskurse zu steuern. Die langfristige Erbringung von Governance-Leistungen im Bereich von „rule of law“ und Sicherheit impliziert daher die Frage nach begrifflicher Fassung und sprachlicher Übertragbarkeit rechtlicher Vorstellungen und Konzepte im Rahmen von Governance-Diskursen.

Das Themenfeld zielt darauf, die Relevanz und Funktionalität bestimmter Governance-Diskurse sowie deren Übersetzbarkeit in verschieden geprägte kulturelle Milieus herauszuarbeiten (à SFB-Ziel 4: Aneignungs- und Abwehrprozesse in Räumen begrenzter Staatlichkeit). Dies geschieht unter drei Leitfragen:

(a)   Wie gestaltete sich das Wechselspiel und die Verschränkung von mündlicher Rechtspraxis und schriftlicher Fixierung im gerichtlichen Alltag, in welchem Umfang machte die Kommunikation in rechtlichen Fragen einen vielfachen Medienwechsel notwendig?

(b)   Inwieweit ist die Entwicklung entsprechender Techniken und die Anfertigung von diesbezüglichen Texten auf die Initiative des politischen Zentrums zurückzuführen oder von diesem gefördert worden, wo hingegen sind lokale Initiativen anzunehmen? Hat es diesbezüglich so etwas wie eine „Sprachenpolitik“ gegeben, die den Zusammenhang von Sprache und Identität reflektierte?

(c)    Inwieweit waren zentrale rechtliche Begriffe des römischen Rechts und das in ihnen verankerte Denken in Rechtsinstituten über die Sprachgrenzen hinweg diskurssteuernd übertragbar und welcher intellektueller Techniken bedurfte man hierzu? Wo lagen mögliche Grenzen solcher Übertragungen und zu welchen Veränderungen kam es im Kontext ihrer subjektiven Aneignung? Welche Auswirkungen hatte der Abgleich unterschiedlicher, insbesondere kulturell geprägter rechtlicher Vorstellungswelten auf die Formierung einer deutschen Fachsprache des Rechts?

Methoden und Operationalisierung

Die beschriebenen Themenfelder werden unter enger Verbindung rechts- und sozialgeschichtlicher Fragestellungen bearbeitet, wobei, durch die unterschiedliche Quellenlage bedingt, jeweils bestimmte Teilaspekte besondere Berücksichtigung finden. Dabei wird auch die Anwendbarkeit unterschiedlicher Aspekte des Governance-Konzeptes erörtert.

Das Themenfeld „Selbstbindung und Kontraktualität als Geltungsgründe von Regierungshandeln und Rechtsleben“ wird auf der Quellengrundlage von allgemeinen Erlassen sowie Gerichtsurkunden bearbeitet. Mit Blick auf den Einsatz des Eides werden außerdem Eidformulare berücksichtigt, die zum Teil in der narrativen Überlieferung erhalten sind. Um zeitgenössische Reflexionen über Eid, Eidbruch und Meineid im Kontext der engen Verzahnung von „Recht“ und „Religion“ zu betrachten, werden vereinzelt auch kirchenrechtliche und theologische Texte herangezogen. Methodisch wird in Anbetracht dieser Quellenlage das Verhältnis zwischen generellen normativen Vorgaben und der Praxis im konkreten Einzelfall zu klären sein. Entgegen der älteren Verfassungsgeschichtsforschung wird dabei im Sinne der Governance-Konzeption so vorgegangen, dass die erhaltenen Quellenzeugnisse nicht einfach als normative Texte ausgewertet, sondern als Resultat vorgängiger kommunikativer Prozesse betrachtet werden. So wird es bei der Untersuchung von Eidformularen beispielsweise darum gehen, diese anhand der in ihnen verwandten Rechtsklauseln (mentaler Vorbehalt, Arglistklauseln etc.) als Produkt vorangegangener Aushandlungsprozesse zwischen Herrscher, Governance-Akteuren und der Bevölkerung zu interpretieren. Gerichtsurkunden enthalten nicht nur Angaben zum Urteil, sondern auch ausführliche Berichte über das Procedere vor Gericht. Die Variabilität verschiedener Verfahrensschritte wird dabei ebenso zu analysieren sein wie die am Verfahren beteiligten Personen, Personengruppen und Funktionsträger.

Die Operationalisierung erfolgt in zwei Schritten über die Untersuchung der Funktion des Treueides auf den Herrscher und der lokalen Gerichtspraxis:

1. Um die Funktionalität des Rechtsinstitutes „Treueid“ zu ergründen, wird die Pflege von Fidelitätsdiskursen innerhalb der fränkischen Gesellschaft unter dem Begriff der „Eides-Treue“ (fidelitas) zum König untersucht (Bezeichnung der Reichsbewohner als „Getreue Gottes und des Königs“ – fideles Dei et regis, ethnisierende Funktion der Loyalitätsbindung). In diesem Zusammenhang werden auch die Präzisierungen und Ausdifferenzierungen des Treuegedankens analysiert, die offenkundig erfolgten, um in Anbetracht einer Vielzahl eidlicher Bindungen und gravierender Sanktionen im Falle des Eidbruchs unbeabsichtigte Eidbrüche zu vermeiden, welche die Verbindlichkeit des Fidelitätsdiskurses untergraben hätten; in diesem Zusammenhang werden auch das Problem der Mehrfachloyalität und die Unterbindung von Verschwörungen berücksichtigt. Im Einzelnen werden sodann die vielerorts zu beobachtende Verweigerung des Treueides durch Flucht untersucht, sodann die (in beiden Fällen auf den Treueid gegründete) Heranziehung der Bevölkerung zum Kriegsdienst sowie deren paramilitärische Mobilisierung als Nachbarschaftsverbände zwecks Erhöhung der inneren Sicherheit (Verfolgung von „Räubern“ etc.). Zusammen mit der Ausdehnung der Treupflicht (z.B. Zeugniszwang in Rechtsverfahren von „öffentlicher“ Bedeutung), die teilweise unter Rezeption römisch-rechtlichen Materials erfolgt, werden das Delikt des Treubruchs (Infidelität), sein Bedeutungsspektrum und die damit verbundenen Sanktionen eingehend untersucht.

2. Im Zentrum der Analyse von Gerichtsurkunden stehen Verfahrenselemente vor Gericht, welche auf die Selbstbindung der Streitparteien zielten bzw. darauf, diese überhaupt erst einmal vor Gericht zu ziehen. Hier ist zunächst zu klären, in welchem Umfang staatliche Funktionsträger überhaupt in das Gerichtsgeschehen involviert waren: Leiteten sie lediglich das Verfahren, oder waren sie auch an materiellen Entscheidungen in der Sache beteiligt? Orientierten sich Entscheidungen am lokalen Recht? Weiterhin sind sog. zweizüngige Urteile zu berücksichtigen, in denen den beklagten Parteien freigestellt wurde, entweder eine fällige Bußsumme zu zahlen oder sich durch einen Reinigungseide freizuschwören (um ihr Erscheinen sicherzustellen). Untersucht werden außerdem Urteilserfüllungsgelöbnisse, in denen die Rechtsparteien feierlich (teilweise unter Eid) versprachen, das noch zu fällende Urteil (wie auch immer es ausgehen würde) anzuerkennen, sowie sog. Urfehdeschwüre, in denen Streitparteien sich ausdrücklich zum Gewaltverzicht verpflichteten. Als Elemente, die sich an der Schnittstelle von „Recht“ und „Religion“ befanden, werden Beweisinstrumente (Reinigungseid, Gottesurteil), die auf eine enge Verquickung von rechtlichen und religiösen Wirkungs- und Bindemechanismen zielten, und die Durchsetzung bestimmter Normen und Delikte mit sowohl weltlichen als auch kirchlichen Sanktionen untersucht. Auch die Exkommunikation als Sanktionsform, die an den Reputationsmechanismen lokaler (christlicher) Gesellschaften ansetzte, wird mit Blick auf bestimmte Delikte berücksichtigt. Die Eigenheiten des Rechtsverfahrens werden vorwiegend auf der Grundlage von Rechtsaufzeichnungen und Gerichtsurkunden des 6.-8. Jahrhundert untersucht, doch werden daneben auch Quellenmaterialien aus der Karolingerzeit herangezogen. Dies erfolgt besonders mit Blick auf die Frage, ob Veränderungen der Gerichtspraxis, die im Zuge der karolingischen Leges-Reform (Einführung der Schöffenverfassung u. a. m.) erfolgten, auf Legitimationsschwächen der bestehenden Institutionen reagierten.

Für die Bearbeitung des Themenfeldes „Die Delegation von Funktionen und Rechten als Methode frühmittelalterlicher Sicherheits- und Rechtspolitik“ bilden Privilegien der merowingischen und frühkarolingischen Herrscher die wesentliche Quellengrundlage, daneben werden auch allgemeine normative Texte (Leges, Kapitularien) berücksichtigt. Da zahlreiche Aspekte des Themas auf spätrömische Vorläufer hin befragt werden müssen, wird außerdem in erheblichem Umfang das spätrömische Kaiserrecht, wie es in den großen spätantiken Kodifikationen (Codex Theodosianus, Codex Iustinianus im Rahmen des später so bezeichneten Corpus iuris civilis) niedergelegt wurde, in die Untersuchung mit einbezogen. Methodisch wird im Sinne des Governance-Paradigmas so vorgegangen, dass Urkunden nicht nur als herrscherliche Akte auf eine Petition hin betrachtet, sondern als Ausdruck komplexer Vorverhandlungen interpretiert werden müssen, an die sich die Vergabe eines Privilegs als strukturbildende Maßnahme anschloss. Zugleich wird die in den Urkunden verwandte Rechtsbegrifflichkeit eingehend im Hinblick auf ihre rechtliche Bedeutung im Kontext der Delegationspolitik erörtert. Wesentlich ist hier die Definition von „Gewalt“, und zwar sowohl im Sinne von (legitimer) Rechtsgewalt als auch von (unrechtmäßiger) physischer Gewalt. Da die Begriffe im Lateinischen klar von einander abgrenzbar waren (potestas im Unterschied zu violentia), im Deutschen dagegen mit demselben Wort „Gewalt“ ausgedrückt wurden, ist die Untersuchung entsprechender Wortfelder und Begriffe samt ihrer Übertragungen in die Volkssprache essentiell.

Die Operationalisierung erfolgt in vier Schritten:

1. Den Ausgangspunkt bildet eine eingehende Erörterung der Rechtsfigur der cessio bzw. Zession (Abtretung, Delegation), ihrer Funktion und ihres Einsatzes in spätrömischer Zeit. Danach ist die Weiterverwendung dieses Begriffes bzw. damit korrespondierender Wörter (z. B. concedere, potestas) in den fränkischen Königsurkunden aufzuzeigen. Die Erneuerung von Urkunden und Privilegien, die nach dem Tod eines jeden Herrschers notwendig wurde, wird vor diesem Hintergrund neu betrachtet im Sinne einer regelmäßig wiederkehrenden Sichtbarmachung des Abgeleitetseins der delegierten Rechte, was als Form von Basislegitimität verstanden werden soll.

2. Im Anschluss daran ist das Spektrum derjenigen Hoheitsrechte zu erfassen, die das fränkische Königtum vom römischen Kaisertum erbte. In diachroner Betrachtung bis in die frühe Karolingerzeit ist sodann darzustellen, in welchem Umfang staatliche Rechte über Privilegien delegiert, welche Hoheitsrechte eher selten abgetreten wurden und in welchem Umfang im Laufe der Zeit bestehende Privilegien erweitert bzw. eingeschränkt wurden.

3. Auf dieser Grundlage ist weiterhin das Verhältnis zwischen der Delegation von Rechten und der Leihe von Land zu klären. Dabei ist einerseits das Anknüpfen der fränkischen Fiskallandleihe an römische Vorbilder (Militärdienstgüter) darzustellen, zum anderen der Bedeutungswandel von der antiken zur frühmittelalterlichen Immunität zu berücksichtigen. Hier gilt es aufzuzeigen, in welchem Ausmaß die leihweise Übertragung von Land und Einkünften aus Herrschaftsrechten dem Königtum Handlungsspielräume eröffnete, um bestimmte Personengruppen und kirchliche Institutionen dazu zu motivieren, vor Ort bestimmte Governance-Leistungen zu übernehmen. Außerdem wird untersucht, in welchem Ausmaß das Königtum tätig wurde, um Besitz, Eigentum und Vermögen der mit Governance-Funktionen betrauten Personen und Einrichtungen zu schützen.

4. In einem darauf aufbauenden Schritt ist die Gruppe der nicht-staatlichen Akteure in den Blick zu nehmen. Einzelne mit Land beliehene Vasallen, die zumeist Patronatsbindungen zum Herrscher eingingen, werden im Hinblick auf ihre Befähigung untersucht, Governance-Funktionen zu übernehmen. Insbesondere ist zu prüfen, inwieweit die leihweise Übertragung von Rechten und Land Auswirkungen auf Familienstruktur, Erbgang und soziale Stellung der Begünstigten vor Ort hatte. Sodann wird das – nicht selten spannungsgeladene – Verhältnis der Vasallen zu den ordentlichen Funktionsträgern, die ein königliches Amt innehatten, sowie die Art ihrer Klientelbindung näher untersucht. Insbesondere wird hier danach gefragt, ob die Patronatsbindung dahingehend funktionalisiert werden konnte, die mit Governance-Funktionen betrauten Personen im Falle ihres Dienstmissbrauchs zur Rechenschaft zu ziehen. Auch die ersten Ansätze zur Delegation von Gerichtsfunktionen, die im Rahmen von Immunitätsverleihungen erfolgten und in Rückkoppelung mit Besitzrechten erfolgten, sind hier zu berücksichtigen. Eine daran anknüpfende Gesamteinschätzung widmet sich der Frage, wie sich das Verhältnis zwischen „öffentlich“ und „privat“ änderte und welche Bedeutung diese Veränderungen für die Rechtspraxis hatten.

Das Themenfeld „Funktionalität und Dysfunktionalität frühmittelalterlicher Geldstrafen“ wird auf der Quellengrundlage vor allem von generellen normativen Texten (Bestimmungen in Leges und Kapitularien, in denen für unterschiedliche Delikte verschieden hohe Bußen statuiert wurden) sowie Formularsammlungen und sog. Privaturkunden (mit Angabe von Konventionalstrafen), teilweise auch theologischen Texten (zur Geldleihe- und Wucherproblematik) bearbeitet. Zur Feststellung der exakten Geldsummen sowie sog. Bannbußenkatalogen wird auch auf handschriftliches Quellenmaterial in Form von Mikrofilm oder originaler Überlieferung zurückzugehen sein. Methodisch wird dabei so vorgegangen, dass Geldstrafen nicht prima facie als Zeichen von Schwäche staatlicher Strukturen angesehen werden, sondern im Sinne eines Governance-Erklärungsansatzes als Teil eines komplexen Wechselspiels zwischen der Schaffung von Anreizstrukturen für örtliche „Rechtstaatlichkeitsunternehmer“ und der Etablierung von Kompensationsmechanismen, die betroffenen Personengruppen ein Ausscheren aus Kreisläufen fortgesetzter Gewalt und Fehdetätigkeit ermöglichen sollten. Dabei wird stets differenziert, ob es sich bei den „Geldstrafen“ um „öffentliche Strafgebühren“ handelt oder um Kompositionssummen, die an den Streitgegner geleistet wurden, um ihm sein Fehderecht gleichsam „abzukaufen“. Das Faktum, dass unter den eher naturalwirtschaftlichen Bedingungen der frühmittelalterlichen Gesellschaft Delikte mit Geldstrafen sanktioniert wurden, soll damit erklärt werden, dass es um die Schaffung von Wertäquivalenten ging, die man im Sinne einer sozialen Konstruktion des Governance-Kollektivs gesellschaftlich konsensfähig zu machen suchte.

Die Operationalisierung erfolgt in vier Schritten:

1. Zunächst sind vor allem die (an der Höhe der Bußsummen erkennbaren) Bewertungsmaßstäbe für einzelne Straftaten herauszuarbeiten, bevor nach den Wert-Äquivalenzen eines kommerzialisierten Strafrechtes insgesamt zu fragen ist. Insbesondere geht es darum, die Bußsummen hinsichtlich ihrer Höhe je nach Delikt (Totschlag, körperliche Verletzungen, Beleidigungen) und Status des Opfers (frei, unfrei, Kleriker, Laie, Römer, Franke etc.) zu differenzieren und auf dieser Grundlage ein Bild von der inneren Struktur der Gesellschaft zu gewinnen. Dabei wird untersucht, ob die Bußsummen die innergesellschaftlichen Strukturen einfach abbildeten oder ob hinter ihnen ein Bemühen zu erkennen ist, bestimmte Gruppen durch Erhöhung ihres Wergeldes zu schützen. Ebenso wird geprüft, ob und inwieweit die Bußsätze neben den rechtsständischen und ethnischen auch den sozialregulativen Leitvorstellungen der Gesellschaft (Rang und Ehre) Rechnung trugen.

2. Danach sind Gerichtsgebühren und die Beteiligung lokaler Funktionsträger an einzutreibenden Geldbußen auch im Gesamtkontext der Verleihung von Gerichtsimmunitäten und Münzprägerechten an lokale Potentaten zu betrachten (dieser Untersuchungsschritt berührt sich mit dem vorgehend erläuterten Themenfeld b).

3. Konventionalstrafen, in denen Rechtsparteien eine Vertragsstrafe (nicht selten von drakonischer Höhe) aussetzten, die ggf. vom Fiskus einzutreiben war, werden im Hinblick auf die Frage analysiert, wieweit hier tatsächlich an der letztverantwortlichen Intervention des „Staates“ festgehalten wurde oder Strafdrohungen eher symbolischer Natur waren.

4. Für die Frage nach der Effizienz eines derartigen Strafsystems ist seine Bewertung durch die Zeitgenossen zu berücksichtigen. Insbesondere kritische Stellungnahmen zur Parteilichkeit und Geldgier der Justiz, die aus karolingischer Zeit erhalten sind und das Schwinden der Trennlinie zwischen privatem Bereicherungsstreben und öffentlichem Amtsgebaren anprangerten, werden in diesem Zusammenhang ausgewertet, um das Spannungsfeld „Geld, Recht und Gerechtigkeit“ zu problematisieren. In diesem Zusammenhang wird auch der Frage nachgegangen, woher die Parteien ggf. das Geld nahmen bzw. bekamen, welches zu zahlen war (z. B. Grundherren, Kirchen und Klöster als „Geldleiheinstitute“), und ob auch die zeitgenössischen Äußerungen zum Zusammenhang von Wucher und Geldleihe sowie in Krisenzeiten erlassene Höchstpreisedikte hierauf zu beziehen sind.

Das vierte skizzierte Themenfeld „Ermittlung, Übersetzung und Transformation normativen Wissens“ zielt darauf, die Funktionalität von Governance-Diskursen und deren Übertragbarkeit in andersartige kulturelle Milieus zu untersuchen. Von den anderen Feldern unterscheidet es sich darin, dass es mit der Relevanz von Begriffen und Diskursen eine sehr allgemein gehaltene Fragestellung verfolgt, die zu untersuchen vor allem in konkreten Handlungssituationen sinnvoll erscheint (z.B. vor Gericht als dem typischen Ort des Zusammenwirkens von Institutionen und Diskursen). Die Untersuchung dieser Fragestellung wird daher arbeitspraktisch keinem eigenen Bearbeiter zugeordnet, sondern als Feld konstruiert, welches jeweils im Hinblick auf die oben erläuterten Themenfelder a-c zu konkretisieren ist. Die Quellengrundlage dafür bieten Glossierungen von Rechtstexten, die in zahlreichen Handschriften überliefert sind (und daher die Inaugenscheinnahme der Handschriften selbst bzw. bei guter Lesbarkeit verfilmter Handschriften notwendig machen), übersetzte Rechtstexte, außerdem die in den Leges und Kapitularien selbst enthaltenen volkssprachlichen Rechtswörter. Methodisch bildet dabei als Grundidee die beabsichtigte Implementierung des Rechts- und Legitimitätsgedankens („rule of law“) den Ausgangspunkt. Im Einzelnen wird so vorgegangen, dass insbesondere das Verhältnis volkssprachlicher Rechtstermini zu Begriffen und Instituten des römischen Rechts zu klären. Im Unterschied zur älteren Rechtsgermanistik, die in den volkssprachlichen Rechtswörtern teilweise den Niederschlag urgermanischen Rechtsdenkens zu erkennen glaubte, wird besonders der Frage nachgegangen, ob die Übertragung römischer und kirchlicher Rechtsbegriffe in die Volkssprache darauf zielten, bei dem zumeist nicht-literaten und auch juristisch nicht gebildeten Adressatenkreis, ein Denken in bestimmten Rechtsinstituten und juristischen Gedankenfiguren zu fördern.

Die Operationalisierung erfolgt jeweils bezogen auf die Themenfelder 1-3 in drei Schritten:

1. Zunächst werden für die allmählich entstehende „Fachsprache des Rechts“ vor allem einschlägige Wortfelder, Begrifflichkeiten und Diskurse erschlossen, die aus normativen Texten lateinischer Sprache sowie auf der Grundlage von volkssprachlichen Glossierungen und Glossaren bzw. Übersetzungen einzelner Texte rekonstruiert werden. Lernprozesse werden anhand von Übersetzung, Transfer und Aneignung rechtlicher Begriffe und Institute sichtbar gemacht. Insbesondere geht es hier um die Übersetzung und Glossierung römischer, z. T. auch kirchlicher Rechtsbegriffe im Frühmittelalter. Der Übersetzung und Übersetzbarkeit zentraler Konzepte des politisch-rechtlichen Diskurses sowie der Begründung von Normen, welche die „rule of law“ untermauern helfen (pax, publicus, iustitia, disciplina, quies, tranquillitas, necessitas, imperium etc.), wird besondere Aufmerksamkeit gewidmet, daneben aber auch Zentralbegriffen der jeweiligen Untersuchungsfelder (z. B. fidelitas, cessio etc.). Neben der Frage der Übertragbarkeit von Rechtsvorstellungen und der Entstehung hybrider Rechtsformen werden auch die Grenzen solcher Übertragungsprozesse (z. B. Uneindeutigkeiten) sichtbar gemacht.

2. Auf der Grundlage der so rekonstruierten Interferenzen zwischen lateinischem und volkssprachlichen Rechtsdenken wird in einem weiteren Schritt der Frage nachgegangen, inwieweit die allgemeinen Rechtsaufzeichnungen (leges) des 6. bis frühen 9. Jahrhunderts, die in lateinischer Sprache verfasst sind, als Kodifikation gewohnheitsrechtlicher und damit als Übersetzung volkssprachlicher Bestimmungen ins Lateinische oder eher als Zeugnisse eines bewussten Abgleichs unterschiedlicher Rechtsvorstellungen zu verstehen sind. Von diesem Gesichtspunkt aus sind auch Initiative und Anteil des fränkischen Königtums an der „Kodifikationsbewegung“ zu klären, um etwaige dahinter stehende politische Zielsetzungen sichtbar zu machen.

3. Der Modus der Bekanntmachung und Verbreitung von Normen im Bereich der Kapitularienerlasse sowie das Verhältnis von mündlicher Rechtspraxis und schriftlicher Fixierung im gerichtlichen Alltag werden, soweit aus Gerichtsurkunden ersichtlich, näher untersucht. Dabei werden auch die Möglichkeiten der Überwindung sprachlicher Barrieren innerhalb von Gesellschaft und Rechtsleben des Frankenreiches ausgelotet.

Stellung innerhalb des Sonderforschungsbereichs

Das Teilprojekt behandelt mit der Legitimität von Governance-Institutionen die zentrale Fragestellung des Projektbereichs B, wobei neben Fragen der Partizipation und Mehrebenen-problematik vor allem die soziale und kulturelle Einbettung von Governance-Modi zentral ist. Zu einzelnen Projekten bestehen engere methodische Verbindungen insbesondere hinsichtlich der theoretisch-historischen Fundierung, wie Governance-Leistungen rechtlich gefasst und operationalisierbar gemacht werden können, d.h. inwieweit sie normative Erwartungs- und Rechtssicherheit generieren und nicht-gewaltsamen Konfliktaustrag möglich machen (B7 Schuppert), außerdem mit Blick auf die Frage nach Akteurskonstellationen auf lokaler Ebene (B6 Harders). Engere thematisch-inhaltliche Verbindungen bestehen zum Teilprojekt C5 Rinke vor allem dort, wo es um die besondere Situation in Grenzregionen geht und wo militärische Eroberung und Integration eroberter Territorien für die Strukturierung von Governance-Modi Vergleiche mit der Situation an den östlichen Grenzen des Frankenreiches anbieten; eng sind hier weiterhin die Berührungen zur Bereitstellung von Governance-Leistungen im Bereich von Sicherheit in Mittel- und Lateinamerika, wo die Legitimierung von Handeln, die militärische Indienstnahme von Gruppen, ethnische Identitätskonstruktionen sowie allgemein sozio-kulturelle Voraussetzungen von Governance gemeinsame Fragestellungen aufwerfen. Im Hinblick auf Aushandlungsprozesse, Akteurskonstellationen sowie die Akkumulation und Verbreitung von Governance-Wissen bestehen zahlreiche Verbindungen zum Teilprojekt D5 Leutner, wo das Untersuchungsgebiet China überdies dazu einlädt, Fragen der Anwendbarkeit zentraler Kategorien wie „Staat“ und „Staatlichkeit“ vor dem Hintergrund divergierender sozio-kultureller Traditionen zu erörtern.

Der besondere Erkenntniswert des beantragten Teilprojektes ist im Hinblick auf die Gesamtproblematik des SFB vor allem in vier Bereichen angesiedelt:

(1)   Das Projekt eröffnet die Möglichkeit, die Anwendbarkeit der in der ersten SFB-Phase erarbeiteten Governance-Konzeptionen auf Übergangsgesellschaften einer wesentlich früher liegenden historischen Epoche zu prüfen und damit die Reisefähigkeit des Governance-Konzeptes nicht nur über Raum, sondern auch über Zeit weiter zu eruieren.

(2)   Die im Teilprojekt behandelten Fragen nach den sozialen und kulturellen Voraussetzungen von Recht und Staatlichkeit und nach dem sozialen Substrat, welches bei der Implementierung von Governance-Modi zu berücksichtigen ist, ermöglicht eine weiterreichende gesellschaftliche Einbettung der Governance-Problematik. Die Frage der „Reisefähigkeit“ von Konzepten wird dabei in einem die kulturellen und sprachlichen Grenzen überschreitenden Kontext erörtert.

(3)   Die Berücksichtigung der weiteren historischen Entwicklung (bis in die Karolingerzeit) erlaubt es, die Frage nach der Effektivität von Governance-Modi in der longue durée zu behandeln, gleichzeitig wird jedoch, da es wesentlich um den Rückbau antiker Staatlichkeit geht, einer teleologischen Perspektivierung im Sinne eines Modernisierungsparadigmas entgegengewirkt.

(4)   Das Teilprojekt vertieft die historische Dimension des SFB erheblich, insofern viele recht-liche und begriffliche Instrumentarien im Bereich von Staatlichkeit und Recht, derer man sich heute bedient oder von denen man sich bewusst abzugrenzen sucht (z.B. die Dichotomie von „öffentlich“ und „privat“), ihre prägende Ausgestaltung in der Antike erfahren haben, von wo aus sie in zahlreichen Rezeptionsschleifen die Genese der modernen Begrifflichkeit mitprägten. Von hier aus ergibt sich auch ein substantieller Beitrag zur Querschnittsarbeitsgruppe „Normative Fragen von Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit“.

Hermann DANNHEIMER und Heinz DOPSCH (Hrsg.) 1988: Die Bajuwaren. Von Severin bis Tassilo 488-788. Gemeinsame Landesausstellung des Freistaates Bayern und des Landes Salzburg, Rosenheim/Bayern, Mattsee/Salzburg, 19. Mai bis 6. November 1988, München u.a. 1988, S. 133.