Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit. Anmerkungen zu konzeptionellen Problemen der gegenwärtigen Governance-Diskussion
Thomas Risse, Ursula Lehmkuhl – 2007
Das zentrale theoretische Problem des westlich dominierten wissenschaftlichen Diskurses über Governance besteht darin, dass die vorgestellten sozialwissenschaftlichen und staatswissenschaftlichen Konzepte vor dem Hintergrund der Erfahrung des Regierens in modernen und hochentwickelten demokratischen Nationalstaaten der OECD-Welt formuliert wurden. Hieraus ergeben sich konzeptionelle Probleme hinsichtlich ihrer Anwendbarkeit auf historische und gegenwärtige Räume begrenzter Staatlichkeit. Diese Räume befinden sich vornehmlich außerhalb der OECD-Welt und sind kulturell, religiös aber auch im Hinblick auf Akteurskonstellationen und Handlungsmodi anders strukturiert als der moderne Nationalstaat westlicher Prägung. Im Rahmen einer Theorie des Regierens in Räumen begrenzter Staatlichkeit müssen deshalb die gegenwärtig diskutierten Governance-Modelle, ihre Grundannahmen und Bewertungskriterien im Hinblick auf ihre Tragfähigkeit und Anwendbarkeit auf politische Räume außerhalb der OECD-Welt geprüft werden. Da das Governance-Thema darüber hinaus mittlerweile intensiven Eingang gefunden hat in die historische und rechtswissenschaftliche Literatur, gilt es auch zu klären, inwiefern die gegenwärtig diskutierten Modelle und Konzepte auch zwischen den Disziplinen »reisen«. Inwieweit ist beispielsweise eine Übertragung dieser »modernen« und von der westlichabendländischen Staatsrechtslehre und Philosophie geprägten Begrifflichkeiten auf historische Kontexte (insbesondere des Mittelalters und der frühen Neuzeit) oder auf außereuropäische Kulturkreise möglich? Und inwieweit können sie den völkerrechtlichen Diskurs über Rechtsformen jenseits der Kategorien von Souveränität und Territorialität bereichern? Mit den folgenden Ausführungen wollen wir einige Vorüberlegungen zu einer Theorie des Regierens in Räumen begrenzter Staatlichkeit vorstellen, indem wir zwei Literaturen kritisch im Hinblick auf ihre Tragfähigkeit und Anwendbarkeit überprüfen: Erstens die Literatur zu »neuen Formen des Regierens« und zweitens die Literatur zu prekärer, zerfallender, fragiler sowie sonstwie begrenzter Staatlichkeit. Im Vordergrund unserer Literaturdiskussion stehen zwei Problemkontexte: der mögliche modernisierungstheoretische und eurozentristische bias des westlich dominierten wissenschaftlichen Diskurses über Governance und die normativen Implikate der darauf basierenden Governance-Konzepte.