Regieren im Kolonialen Amerika. Colonial Governance und koloniale Gouvernementalité in französischen und englischen Siedlungskolonien
Ursula Lehmkuhl – 2007
Obwohl die königlichen Repräsentanten in der Nouvelle-France, insbesondere die Intendanten, mit deutlich mehr Vollmachten ausgestatten waren als jene, die Colbert im Zuge der Zentralisierung der französischen Verwaltung im 17. Jahrhundert in Frankreich selbst eingesetzt hatte (Munro 1906), berichteten sie dem Marineministerium in Paris immer wieder von Schwierigkeiten mit den Siedlern in Kanada. Die habitants seien undiszipliniert, faul, ungehorsam und ließen den nötigen Respekt vor der königlichen Autorität vermissen (Edits et Ordonnances 1854). Ganz offensichtlich gelang es den Vertretern metropolitaner Macht nicht, das einzufordern bzw. aufzubauen, was Max Weber als Grundlage von Herrschaft bezeichnet, nämlich Gehorsamsbereitschaft und Gehorsamspflicht. Herrschaft im „modernen“ Sinne ist eingefasst in soziale Institutionen und deren normative Grundlagen, die zusammen mit der Existenz einer legitimen Regierung für Recht und Sicherheit sowie für die effektive Bereitstellung von Gemeinschaftsgütern sorgen. Offensichtlich fehlten in der Nouvelle-France (aber nicht nur dort) zu Beginn des 18. Jahrhunderts die institutionell-normativen Grundlagen politischer Herrschaft, so dass sich die Frage stellt: Wie wurde Gehorsamsbereitschaft erzeugt, ohne dass die Zeitgenossen auf die typischen Instrumente „moderner Herrschaft“ zurückgreifen konnten? Oder anders ausgedrückt: Wie wurde im kolonialen Amerika regiert? Gab es so etwas wie Colonial Governance und wenn ja, welche Governance-Formen existierten, welche Governance-Leistungen wurden erbracht und wie funktionierte diese frühneuzeitliche Form kolonialen Regierens?