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Projektbeschreibung

 

Das Teilprojekt knüpft zeitlich, räumlich und inhaltlich an die erste Projektphase an, in deren Zentrum die Untersuchung von Governance-Formen und Akteurskonstellationen in den Provinzen Guangdong und Shandong am Ende der Qing-Zeit (1864-1911) standen. Ausgehend von den Ergebnissen der ersten Phase fragt das Teilprojekt: Welche Governance-Formen sind hinsichtlich der Gewährleistung von Ernährung und Sicherheit in der Provinz Guangdong nach dem politischen Umbruch 1911 im Zeitraum 1912-1928 zu beobachten? Welche Modi der Handlungskoordination können im Einzelnen festgestellt werden? Wie gestalteten sich die Aushandlungsprozesse zwischen militärisch-politischen Machthabern (warlords)[1], staatlichen Vertretern vor Ort, lokalen Eliten sowie Bauernvereinigungen und Gewerkschaften vor dem Hintergrund begrenzter Staatlichkeit, bedingt durch nicht durchsetzungsfähige Zentralregierungen und einander häufig ablösende Warlord-Regimes auf Provinzebene? (à SFB-Ziel 1: Modi der Handlungskoordination und Machtverhältnisse).

Angesichts des Weiterwirkens komplexer Akteursgeflechte und starker Machtstrukturen auf lokaler Ebene sowie instabiler politischer Machtverhältnisse auf der Zentral- und Provinzebene geht das Teilprojekt davon aus, dass Formen hierarchischer Steuerung nur bedingt erfolgreich waren. Wichtiger waren – so unsere Ausgangsthese – Formen der diskursiven Steuerung durch konkurrierende „alte“ (Konfuzianismus) und „neue“ (Sozialismus, Nationalismus) Wertvorstellungen. Auf welche Weise wurde versucht diskursiv zu steuern? Welche Rolle spielte dabei der Rekurs auf „alte“ und „neue“ Legitimitätsdiskurse (à SFB-Ziel 3: Effektivität und Legitimität von Governance)? Und welche Bedeutung hatten diskursive Aneignungs- oder Abwehrprozesse (à SFB-Ziel 4: Aneignungs- und Abwehrprozesse in Räumen begrenzter Staatlichkeit)?

Auch in der historischen Praxis sind verschiedene Ausprägungen von Aneignung und Abwehr zu beobachten, so dass sich ein komplexer, auch asymmetrisch verlaufender Prozess von Kontinuitäten und unterschiedlichen Neustrukturierungen von Governance-Formen feststellen lässt. Durch die zeitliche Anknüpfung an die erste Projektphase bietet sich darüber hinaus die Möglichkeit zu überprüfen, welche Rolle das vor 1912 generierte Governance-Wissen – dessen Entstehung wir in der ersten Projektphase nachgezeichnet haben – für die Etablierung neuer Governance-Formen nach Ausrufung der Republik China 1912 spielte.

Unsere Ausgangsvermutung lautet, dass trotz der Desintegration auf zentralstaatlicher Ebene und trotz der instabilen politischen Verhältnisse in Guangdong, die Ernährung der Bevölkerung und die Aufrechterhaltung von Sicherheit auf lokaler und Provinzebene durch die Etablierung bestimmter Governance-Formen gewährleistet waren. Damit wird letztlich das immer noch dominante Narrativ der Forschung in Frage gestellt, das für diesen Zeitraum eine generelle Desintegration staatlicher Strukturen und einen Wegfall von Wohlfahrtsleistungen postuliert.

Die systematische Bearbeitung der Leitfragen erfolgt in mikrohistorischen Fallstudien zur Stadt Guangzhou (Kanton) und zu ländlichen Bereichen der Provinz Guangdong, die in der ersten Projektphase den einen der beiden regionalen Schwerpunkte bildete. Die mikrohistorische Perspektive ebenso wie die von uns modifizierten politikwissenschaftlichen Ansätze aus der Governance-Forschung, die bereits in der ersten Phase angewandt wurden, sollen weitergeführt und vertieft werden. Zugleich sollen die Einzelfallanalysen, die einen Zeitraum von 17 Jahren umfassen, miteinander verglichen und in Verbindung zur quasi-zentralstaatlichen Ebene der Provinz gesetzt werden. Die mikrohistorische Perspektive auf Governance-Formen in der lokalen Gesellschaft bietet somit auch neue Erkenntnismöglichkeiten für die Analyse makrohistorischer Prozesse. Das Teilprojekt leistet damit einen Beitrag zur soziokulturellen Kontextualisierung von Governance und zur Systematisierung und Typologisierung von Prozessen der Institutionalisierung bzw. der Auflösung von Governance-Formen (à SFB-Ziel 5: Von der Produktion privater Güter zur Bereitstellung von Governance).

Bericht über die bisherige Entwicklung des Teilprojekts

In der ersten Projektphase wurden Kooperationsnetze und lokale Governance-Formen bezüglich Ernährung und Bildung im semikolonialen China (1860-1911) vergleichend für die Provinzen Guangdong und Shandong analysiert.[2] Bereits im spätkaiserlichen China können komplexe Kooperationsnetze von unterschiedlichen Akteuren zur Sicherstellung sozialer Grundversorgung, meist bezogen auf die Hervorbringung eines speziellen Gutes, in der Lokalgesellschaft beobachtet werden. Diese Kooperationsnetze konnten sich auf bestehende soziale Netze (Landsmannschaften, Gilden, Lineages, Clans und Geheimgesellschaften) stützen. Unsere Annahmen, dass sich im halbkolonialen China als einem Raum begrenzter Staatlichkeit neue Kooperationsformen zur Erbringung von Governance-Leistungen unter Einbezug transnationaler, aber auch translokaler Akteure herausbildeten, haben sich bestätigt. Es handelt sich dabei um folgende Interaktionsformen von nicht-staatlichen und staatlichen Akteuren, die nicht-hierarchische und hierarchische Steuerungselemente sowie Elemente von Wettbewerb aufweisen: 1. zwischen Beamten der lokalen Ebene und den lokalen Eliten („traditionelle Kooperation“), 2. zwischen Beamten der Provinz- und/oder lokalen Ebene und chinesischen nicht-staatlichen Akteuren (Gentry, Kaufleute) aus anderen Gebieten des Kaiserreichs („translokale Kooperation“) und 3. zwischen Beamten der Provinz- und/oder lokalen Ebene und transnationalen/kolonialen Akteuren („transnationale Kooperation“). Mit der Identifizierung dieser verschiedenen Kooperationsformen hat das Projekt nicht nur zur Klärung von Entscheidungsstrukturen und Organisationsformen von Governance beigetragen, sondern zugleich die Verflechtungen zwischen lokalen, nationalen und inter- bzw. transnationalen Handlungszusammenhängen im Sinne von „Mehrebenen-Governance“ aufzeigen können (vgl. Sonderforschungsbereich 700 2005: 20).

Dabei erwies sich eine Unterscheidung zwischen ad hoc-Kooperationen (Ernährung, insbesondere Hungerhilfe) und längerfristig angelegten Kooperationen (Bildungsbereich) als notwendig, um die historischen Kontexte und Varianten von Governance angemessen beschreiben zu können (vgl. Sonderforschungsbereich 700 2005: 21). Mathias Heinrich arbeitete in seiner Dissertation zu Governance in Nordchina? Kooperationsnetzwerke zur Bereitstellung von Katastrophenhilfe im semikolonialen China (1876-1908) heraus, wie sich die verschiedenen Interaktionsformen von nichtstaatlichen und staatlichen Akteuren in Ermangelung staatlicher Ressourcen zunächst ad hoc konstituierten, um die Versorgung von Katastrophenopfern sicher zu stellen, sich dann allerdings insofern verstetigten, als sie zu einem festen Bestandteil der Bereitstellung von Katastrophenhilfe wurden. Neben der Beteiligung transnationaler Akteure, die allerdings nur im Einzelfall zu beobachten war, bildete sich in den 1870er Jahren die translokale Kooperation als neue Governance-Form heraus und setzte sich in der späten Kaiserzeit als dominante Interaktionsform im Bereich der Katastrophenhilfe durch.

Hans-Joachim Frölichs Dissertationsprojekt über Kooperationen im Bildungswesen in Südchina, 1900-1911 verdeutlicht darüber hinaus, dass die neuen Governance-Formen nicht nur der Sicherstellung bestehender Staatsleistungen dienten, sondern auch umgekehrt bei der Erschließung neuer Governance-Aufgaben auf das in traditionellen Kooperationen bereits generierte Governance-Wissen zurückgegriffen wurde. So stützte sich die Qing-Regierung bei der Neufassung der modernen Bildung als eine im vollen Umfang vom Staat wahrzunehmende Aufgabe weitgehend auf die traditionelle Kooperation mit den lokalen Eliten. Die Idee der notwendigen Errichtung eines solchen staatlichen Schulwesens wurde dabei in China sowohl durch zentralstaatliche und transnationale (Missionare) als auch lokale Akteure perzipiert und verbreitet. Die daraus resultierende Vorbildnahme der Reformer ins-besondere am japanischen und deutschen Bildungssystem führte lokal zur Herausbildung hybrider Institutionen. Dem imperialen Staat selbst fehlten die Finanz- und Machtmittel zur Umsetzung seiner ehrgeizigen Reformziele, so dass sich das nominell moderne, staatlich gelenkte Bildungssystem auf der lokalen Ebene als Mischung aus „traditionellen“ und neuen Governance-Formen wie auch Bildungsinhalten in unterschiedlichen Mischungsverhältnissen präsentierte.

Gemeinsam mit den anderen historischen Teilprojekten haben wir eine Identifizierung von Governance-Akteuren in kolonialen Kontexten vorgenommen und damit zur Analyse der historischen Zusammenhänge und Varianten von Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit beigetragen (vgl. Sonderforschungsbereich 700 2005: 21). Hinsichtlich der Übertragbarkeit des Governance-Konzepts auf Räume begrenzter Staatlichkeit hat sich gezeigt, dass die in den Politikwissenschaften angenommene, implizit auf Vorstellungen moderner Staatlichkeit beruhende strikte analytische Trennung von staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren empirisch nicht haltbar ist. So konnten Mischformen von Akteuren identifiziert werden: Es gab eine zwischen staatlicher und gesellschaftlicher Sphäre angesiedelte Zwischenschicht von Akteuren – vielfach auch korporative Akteure –, die wir als halb-staatliche oder hybride Akteure bezeichnen, z. B. wurden Vertreter der Lokalgesellschaft seitens der Zentralregierung mit Governance-Aufgaben vor Ort betraut oder übernahmen diese aus eigener Initiative, ohne dass sie in das administrative System des Staates eingebunden wurden. Dies traf auch für die mit Governance-Aufgaben betrauten untergeordneten Angestellten des Distrikt-Magistrats zu.

Auch auf der Wahrnehmungsebene wird deutlich, dass eine klare Trennung von staatlicher und nicht-staatlicher Sphäre nicht möglich ist: Während ein Akteur aus der lokalen Elite von der Landbevölkerung als staatlicher Akteur wahrgenommen wurde, weil er Governance-Aufgaben erfüllte, wurde er auf Provinz- und zentralstaatlicher Ebene nicht als solcher betrachtet. Ebenso wurde festgestellt, dass zwischen öffentlichen und privaten Aufgaben keine klare Grenze gezogen werden kann, sowohl was die reale Ebene der Durchführung als auch die Wahrnehmungsebene betrifft. Teils ist eine Vermischung der Aufgaben und teils ist eine Überführung von privaten in öffentliche Aufgaben oder auch eine veränderte Wahrnehmung und Erwartungshaltung in Bezug auf ehemals private Aufgaben als öffentliche Aufgaben zu beobachten (Leutner 2007).

Die Kategorien von privat und öffentlich haben sich auch für die anderen historischen Teilprojekte (C4 Lehmkuhl/Finzsch, B4 Conrad, C5 Rinke) als problematisch erwiesen, so dass unter Einbezug von Diskussionen um das Verhältnis von Staat und Gesellschaft in China (public sphere-Debatte)[3], gemeinsam mit den Projekten des D-Bereichs der eingangs erwähnte Begriff der „Interaktionsform nicht-staatlicher und staatlicher Akteure“ (INSA) entwickelt wurde (Beisheim/Fuhr 2008: 6). Neben der Modifizierung des Begriffs „Public Private Partnership“ haben wir den für uns zentralen Begriff der Kooperationsnetzwerke entschieden weiterentwickelt (Leutner 2007: 154 f.) und sowohl im Rahmen eines von uns am SFB organisierten internationalen Workshops als auch durch Publikationen und Konferenzbeiträge einem internationalen sinologischen Fachpublikum vorgestellt.[4] Die Weiterentwicklung des Begriffs geschah auch in Auseinandersetzung mit der auf China bezogenen Netzwerk-Forschung (Frölich/Heinrich 2009). In der Auseinandersetzung mit der chinesischen Netzwerkforschung haben wir das Konzept der „Kooperationsnetzwerke“ um kulturspezifische Ausprägungen erweitert und damit bereits in der ersten Phase einen wichtigen Beitrag zur Frage der kulturellen Übersetzbarkeit politikwissenschaftlicher Ansätze und Theorien geleistet (Leutner 2007).

Die Entstehung der oben beschriebenen Interaktionsformen steht in engem Zusammenhang mit materiellen Interessen der Akteure und einem Zugewinn von symbolischem Kapital (win-win Situation). Einmal schuf der Staat selbst die Bedingungen für neue Kooperationsformen mit, insofern als er neue quasi-staatliche Büros für ad hoc-Aufgaben wie etwa Katastrophenhilfe einrichtete und/oder die Zahl der Regierungshilfen des Magistrats (lokale Ebene) immens erhöhte. Zum anderen ging die Kooperationsinitiative von Akteuren der Lokalgesellschaft aus, die nicht nur einen eigenen Zugewinn, sondern durch die Bereitstellung von öffentlichen Gütern auch die Aufrechterhaltung sozialer Stabilität anstrebten. In Bezug auf die Problematik des guten Regierens im Sinne von Problemlösungsfähigkeit und Legitimität konnte unser Projekt eine enge Verzahnung dieser beiden Aspekte feststellen. Es erwies sich, dass die Legitimität der Interaktionsformen zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren eng mit ihrer Effektivität bei der Bereitstellung von Governance-Leistungen verknüpft war, eine Dominanz der Output-Legitimität war somit zu beobachten. Dies lässt sich mit dem konfuzianischen Weltbild erklären, wonach die zunächst als gegeben verstandene Herrschaft des Kaisers und seiner Beamten an das Wohlergehen des Volkes geknüpft war. Der „gute“ Distriktbeamte regierte durch moralisches Vorbild. Dabei implizierte die konfuzianische Vorstellung einer moralischen Gesellschaft auch deren Selbstregulierung und Selbstregierung (vgl. Huang 2008: 25f).[5]

Interaktionsformen zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren – so unser Ergebnis – sind allerdings eher dort zu finden, wo auch der Staat präsent ist, d.h. der Schatten der Hierarchie groß ist. Die Präsenz des Staates bezieht sich einmal auf den Erhalt lokal-staatlicher Strukturen (auch bei eingeschränkter Durchsetzungsfähigkeit des Zentralstaates) und zum anderen auf das Fortbestehen der Idee einer zentralstaatlichen Autorität und Legitimität bei Bevölkerung und politischer Elite. Zusammengenommen verdeutlichen diese beiden Aspekte die fortwährende Bedeutung von (minimaler oder Rest-) Staatlichkeit als Kontextbedingung von Governance.

War also der Schatten der Hierarchie Vorbedingung für das Funktionieren der Kooperation zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren, so blieb es hinsichtlich der Entscheidungsstrukturen und Organisationsformen von Governance dabei, dass dem hierarchischen Modus des Regierens selbst durch die geringe Zahl staatlicher Beamter äußerst enge Grenzen gesetzt waren.[6] Stattdessen dominierten nicht-hierarchische Steuerungsformen wie etwa Verhandlungssysteme oder Arguing.

Indizien für eine Nachhaltigkeit der identifizierten Interaktionsformen ergeben sich sowohl aus personellen Kontinuitäten, aber auch aus den in diesen Kooperationen erfolgten Lernprozessen hinsichtlich Governance, also der Produktion von Governance-Wissen, das – so unsere Ausgangsthese für das Folgeprojekt – nachhaltig auch über den politischen Umbruch 1911 hinaus tradiert wurde. Aus der Perspektive von Governance muss die Bedeutung des Umbruchs 1911 insofern relativiert werden.

Im Hinblick auf die Verstetigung und Institutionalisierung von Governance hat sich gezeigt, dass wir tendenziell von längerfristigen Prozessen ausgehen müssen. Dies gilt insbesondere für die Hungerhilfe, wo, wie erwähnt, translokale Kooperationen sich zwar verstetigten und auf diese Weise staatliche und nicht-staatliche Ressourcen zusammengeführt wurden, ohne dass es allerdings unmittelbar zu einer Institutionalisierung gekommen wäre. Im Falle der Bildung dagegen wurden private Formen der Finanzierung von Schulen im Zuge der Bildungsreformen nach 1900 nominell relativ rasch in vom Staat ins Leben gerufene Institutionen überführt. Faktisch jedoch behielten diese Institutionen als Kooperationsprojekte staatlicher und nicht-staatlicher Akteure in Ermangelung effektiver staatlicher Kontrollmöglichkeiten einen großen Grad an Autonomie. Institutionalisierungsprozesse müssen daher, so unser Ergebnis, über längere Zeiträume betrachtet werden, die eben auch vermeintlich trennscharfe zeitliche Grenzen wie die Revolution von 1911 überspannen. Diesem trägt die zeitlich anknüpfende zweite Projektphase Rechnung.

Die vergleichend angelegten Mikrostudien mit den Schwerpunkten in der südlichen Provinz Guangdong und in der nördlichen Provinzen Shandong machten überdies deutlich, dass – wie auch in anderen historischen Teilprojekten (C4 Lehmkuhl/Finzsch, B4 Conrad, C5 Rinke) – neben der Berücksichtigung der unterschiedlichen sozioökonomischen Kontextbedingungen eine Unterscheidung zwischen den staatlichen Ebenen (Distrikt-, Provinz-, Zentralregierung) notwendig war, um präziser den Grad des Schattens der Hierarchie bestimmen zu können. Diese Unterscheidung – eine weitere Ausdifferenzierung der sonst meist als Trias von lokaler, nationaler und inter- bzw. transnationaler Ebene gefassten Mehrebenenproblematik – hat sich für die Untersuchung der Kooperationen zur Erbringung von Governance-Leitungen sowie für die Charakterisierung der beteiligten Akteure als unumgänglich erwiesen. Auch diese Ergebnisse fließen als Ausgangshypothesen in das Folgeprojekt ein.

Der Vergleich der beiden Fallstudien schien zunächst eine gegenläufige Entwicklung als Ergebnis nahezulegen: Während sich der Staat aus der Katastrophenhilfe mehr und mehr zurückzuziehen und stattdessen auf private Hilfe zu setzen schien, deuteten die Bildungsreformen nach 1900 auf eine Ausweitung staatlicher Aufgaben. Die nähere Analyse hat freilich ein differenzierteres Bild ergeben, in dem anstelle der Gegenläufigkeit deutliche Parallelen zutage treten: In beiden Fällen sorgten lokale wie translokale private und korporative (und teilweise auch transnationale korporative) Akteure dafür, dass öffentliche Güter bereitgestellt wurden. Im Falle der Hungerhilfe sprangen diese Akteure ein, als der Staat diese Aufgabe nicht länger erfüllen konnte. Im Falle der Bildung hingegen bemächtigte sich der Staat eines vordem hauptsächlich von privaten und korporativen Akteuren dominierten Feldes und inkorporierte diese Akteure weitgehend.

Die Kooperationen haben sich als zentrales Element für die Charakterisierung des Qing-Staates auf der makrohistorischen Ebene erwiesen. Der spätkaiserliche Staat war zur Durchführung der Aufgaben, die – in unserem Projekt insbesondere am Bildungswesen abzulesen im Zuge der Modernisierung zunehmend komplexer wurden, während die Einnahmen und Handlungsspielräume des Staates sich insbesondere aufgrund der semikoloniale Situation mehr und mehr verringerten, stark auf die Kooperation insbesondere der lokalen Elite angewiesen. Unsere Untersuchung hat allerdings die These vom „kooperativen Staat“ (Kreuzer 1998) insofern modifizieren können, als auf der lokalen Ebene neben staatlichen Akteuren in besonderem Maße nicht-staatliche Akteure initiativ wurden bei der Übernahme von Gemeinschaftsaufgaben und damit die kooperativen Interaktionen entscheidend prägten.

Insgesamt wurden, gerade im dezentrierenden und transkulturellen Vergleich, die Möglichkeiten und Grenzen der durch den Modus der Kooperation ermöglichten Adaptionsfähigkeit des Staates an eine zunehmend komplexe Umwelt deutlich. Die durch transnationale Austauschprozesse ausgelöste Neudefinition von Staatsaufgaben, wie sie dem modernen Nationalstaat zugeschrieben wurden, stellte das chinesische Kaiserreich vor Aufgaben, denen mit dem Instrumentarium des kooperativen Staates nur noch bedingt und zeitlich begrenzt beizukommen sein sollte. Zwischen 1900 und 1911 erodierte der kooperative Staat, auch weil seine Legitimität durch neue Diskurse unterminiert wurde. Der kooperative Charakter des chinesischen Staates ermöglichte also einerseits den Ausgleich von Governance-Defiziten, andererseits bot er autonome Handlungsspielräume für gesellschaftliche Akteure, die dadurch ihre politischen Einflussmöglichkeiten ausbauen konnten.

In der nachfolgenden Periode bis 1928, die nun im Fokus des Teilprojekts steht, sollten sich zwar einerseits die politischen Rahmenbedingungen nicht zuletzt durch die formale Einrichtung der Republik China grundlegend ändern, doch zugleich gilt es zu beobachten, wie etablierte Governance-Formen und -Modi aufgegriffen, modifiziert oder auch radikal in Frage gestellt wurden.

Geplante Weiterführung des Teilprojekts

Das Folgeprojekt knüpft zeitlich und räumlich an die Ergebnisse der ersten Phase an, indem es die Provinz Guangdong in der Zeit von 1912 bis 1928 untersucht und vor allem mikrohistorisch vorgeht. Jedoch ändern sich die Rahmenbedingungen entscheidend: Während es in der ersten Phase um das semi-kolonial geprägte kaiserliche China ging, geht es in dieser Phase um die Anfangsjahre der Republik China, welche sich bis 1928 in einer Übergangssituation befand, in der – im Unterschied zum Kaiserreich – verschiedene Gruppierungen um die Herrschaft über das ganze Territorium oder Teile davon konkurrierten. Somit wenden wir uns, wie die übrigen historischen Projekte (B10 Esders, C4 Lehmkuhl/Finzsch, C5 Rinke), den in Übergangssituationen begriffenen Räumen zu, die vor allem durch transitorische Governance-Konstellationen gekennzeichnet waren.

Nachdem in der ersten Phase Netzwerke und Kooperationsformen von staatlichen, nicht-staatlichen und halb-staatlichen Akteuren identifiziert wurden, sollen nun die Aushandlungsprozesse von Governance ins Zentrum der Untersuchung gerückt werden (SFB-Ziel 1: Modi der Handlungskoordination und Machtverhältnisse). Damit stehen erneut Governance-Modi im Fokus unserer Untersuchung, sowohl auf der lokalen als auch auf der Provinzebene. Der untersuchte Zeitraum ebenso wie die wechselnden Machtkonstellationen bieten im besonderen Maße die Möglichkeit, sowohl Prozesse der Institutionalisierung informeller Kooperationsnetze als auch Prozesse des Abbaus von Institutionen zu systematisieren (SFB-Ziel 5: Von der Produktion privater Güter zu Governance).

Einen wichtigen Beitrag zur Analyse von Mehrebenenverschränkung leistet das Teilprojekt dadurch, dass es subnationale Ebenen in die Untersuchung miteinbezieht und ihre Rolle für die verschiedenen Governance-Modi und -Konstellationen analysiert. Zentral sind dabei die Prozesse der Aneignung und Abwehr zwischen Akteuren verschiedener Ebenen in Bezug auf Governance-Diskurse und -Praktiken (→ SFB-Ziel 4: Aneignungs- und Abwehrprozesse). Es wird zu klären sein, inwiefern Legitimitätsfragen (→ SFB-Ziel 3: Effektivität und Legitimität von Governance) und die Tradierung von Governance-Wissen, die auch von anderen historischen Projekten thematisiert werden, in diese Prozesse hineinwirken. Damit werden nicht zuletzt die soziokulturellen Kontextbedingungen stärker in den Blick genommen.

Forschungsziele und Leitfragen

Das Teilprojekt untersucht die Erbringung der Governance-Leistungen Ernährung und Sicherheit im Zeitraum von 1912 bis 1928 in der südchinesischen Provinz Guangdong. Die Provinz zeichnet sich in diesem Zeitraum durch wechselnde Regime militärisch-politischer Machthaber aus und war territorial, sektoral und zeitlich ein Raum begrenzter Staatlichkeit. Im Fokus der Analyse stehen Modi der Handlungskoordination – v.a. Formen nicht-hierarchischer und diskursiver Steuerung –, Fragen der Legitimität sowie lokale Aneignungs- und Abwehrprozesse in Bezug auf Governance-Praktiken und -Diskurse.

Die zentralen Leitfragen des Teilprojekts lauten: Welche Governance-Formen sind in dieser Periode in Guangdong zu beobachten und wie gestalteten sich die Aushandlungsprozesse zwischen a) den Militärmachthabern der Provinz und der lokalen Ebene und b) den staatlichen Vertretern vor Ort, den lokalen Eliten und den sich neu herausbildenden Bauernvereinigungen und Gewerkschaften hinsichtlich der Gewährleistung von Ernährung und Sicherheit? Welche Formen nicht-hierarchischer Steuerung sind zu beobachten und auf welchen Ebenen fanden sie statt? Wie wurden diese Formen ggf. mit hierarchischen Steuerungsformen verbunden? Welche Modi der Handlungskoordination traten unter welchen Bedingungen auf? Welche Formen von Interaktion fanden statt? Wurde, wie für die Spätphase des Kaiserreiches festgestellt, vor allem auf Steuerung durch Rückgriff auf Interessenkalküle gesetzt und existierten Anreize, durch die Übernahme von Gemeinschaftsaufgaben symbolisches Kapital (Pierre Bourdieu) akkumulieren zu können? (SFB-Ziel 1: Modi der Handlungskoordination und Machtverhältnisse)

Lassen sich darüber hinaus verstärkt, insbesondere ab Anfang der 1920er Jahre, Formen der nicht-hierarchischen Steuerung durch Diskursstrukturierung feststellen? Wie funktionierten Aneignungs- und Abwehrprozesse in diesem Zusammenhang? Hier stellt sich die Frage nach der Rolle von Nationalismus-, Modernisierungs-, Sozialismus- und Reformdiskursen insgesamt in den Aushandlungsprozessen und in der Wahrnehmung der Akteure. Vorstellungen von Volksrechten und Volkswohlfahrt, die sich im weitesten Sinne auf politische Partizipation und soziale Gerechtigkeit beziehen und von Sun Yatsen (1866-1925) und der Nationalpartei (Guomindang/GMD) proklamiert wurden, wurden ebenso wie sozialistische Ideen der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) von Verteilungsgerechtigkeit und Volksdemokratie gerade in Guangdong in breitem Maße aufgegriffen und dienten teilweise dazu, die wechselnden politisch-militärischen Strukturen auf Provinzebene zu legitimieren. Doch ob diese Input-Legitimität auch auf der Distriktebene zu beobachten ist oder ob hier vorrangig weiterhin konfuzianische Diskurselemente, die auf Output-Legitimität zielen, zu beobachten sind, soll an Fallbeispielen geklärt werden.

Wir gehen heuristisch davon aus, dass während der von uns untersuchten Periode das ehemals hierarchische Konzept mit seinen paternalistischen Zügen zunehmend diversifiziert und „demokratisch“ gebrochen wurde, insofern, als demokratische Ideen und gesellschaftliche Praktiken, die (auch) aus diesen Ideen abgeleitet wurden (Boykotte, Streiks, Bildung von Bauernsowjets), an Bedeutung gewannen. Die wechselnden Machthaber auf der Provinzebene jedenfalls suchten ihre Herrschaft über die rein militärische Komponente hinaus auch auf der politischen Ebene als legitim zu fundieren (McCord 1993: 310). (→ SFB-Ziel 4: Aneignungs- und Abwehrprozesse; àSFB-Ziel 3:Effektivität und Legitimität von Governance)

Welche Aufgaben übernahmen nun die jeweiligen Machthaber hinsichtlich der Bereitstellung von Ernährung und Sicherheit und wie waren andere Akteure auf Provinz- und Distrikt-ebene in die Steuerungsprozesse eingebunden? Wie ist hier die Rolle der Vertreter der Kommunistischen Internationale zu sehen, deren intensive Beratertätigkeit ab Anfang der 1920er Jahre als Steuerungsversuche sowohl durch Überzeugungsprozesse als auch durch materielle Anreize zu werten sind?

Für den Zeitraum ab 1920 gibt es Indizien dafür, dass (auch) eine Handlungskoordination durch institutionalisierte Regelungsstrukturen erfolgte, als nämlich die Provinzführer die zweite Südregierung mit zentralstaatlichem Anspruch etablierten und versuchten, zivilgesellschaftliche Beteiligung durch die Etablierung formalisierter Institutionen zu ermöglichen (Culp 1994: 462). Welche unterschiedlichen Formen (informelle, formalisierte, institutionalisierte) nahmen nun die Aushandlungsprozesse auf den verschiedenen Ebenen an? Und nicht zuletzt: Wie können diese Aushandlungsprozesse und Governance-Formen kategorisiert werden? Welche Bedeutung kam ihnen über die lokale Ebene hinaus zu? Handelte es sich um lokal disparate Governance-Formen oder lassen sich Gemeinsamkeiten für die Provinz insgesamt feststellen? Waren es möglicherweise gerade diese in Guangdong erprobten Aushandlungsprozesse und Governance-Formen, die – im Unterschied zu den Warlord-Regimes anderer Provinzen – zur erfolgreichen Etablierung einer neuen Nationalregierung im Jahre 1928 führen sollten? Was waren folglich die Besonderheiten der in Guangdong erprobten Governance-Formen, welche einen gesamtstaatlichen Regierungsanspruch legitimieren konnten? Im Hinblick auf die dritte Projektphase des SFB stellt sich die Frage, ob letztlich das Versagen der GMD, diese Governance-Formen auf zentralstaatlicher Ebene durchgängig zu implementieren, in den 1930er Jahren zur allmählichen Durchsetzung der Kommunistischen Partei führte, was schließlich in die Gründung der VR China im Jahre 1949 mündete? Oder waren die in Guangdong erprobten Governance-Formen zwar ausreichend, um – befristet – einen zentralstaatlichen Anspruchs behaupten und erlangen zu können, jedoch auf Dauer ungeeignet, einen zentralstaatlichen Regierungsanspruch zu legitimieren? (SFB-Ziel 1: Modi der Handlungskoordination und Machtverhältnisse;àSFB-Ziel 5: Von der Produktion privater Güter zu Governance)

Im weiteren Sinne stellt sich somit die Frage nach dem Verhältnis von Staat und Gesellschaft im frühen republikanischen China: Welche Bedeutung hatte hierfür die Entwicklung in Guangdong, welchen Anteil hatten daran die internationalen Akteure? Die Annahme einer Entgegensetzung von Staat und Gesellschaft, von öffentlichen und privaten Räumen hat sich bereits in der ersten Projektphase für die späte Kaiserzeit als unzutreffend erwiesen und ist modifiziert worden zugunsten des Konzepts einer kooperativen Interaktion beider Sphären, in denen auch quasi- bzw. halb-staatliche Akteure eine wichtige Rolle einnahmen.[7] Diese Annahmen gilt es für die Warlord-Periode zu überprüfen. Desgleichen gilt es, die Thesen von einem „’third realm’ between state and society“ (Huang 1993) und einer „semiformal governance“ (Huang 2008: 9) zu überprüfen. Die letztere These behauptet, dass auf Grund der Existenz und wichtigen Rolle gerade der quasi-staatlichen Akteure „semiformal governance“ ein zentrales Charakteristikum der politischen Tradition in China war. Eine Überprüfung dieser These wird konsequenterweise auch die wichtige Frage der Charakterisierung des chinesischen Staats bzw. seiner Traditionslinien bis zur Gegenwart umfassen – eine Frage, die gegenwärtig neue wissenschaftliche Debatten evoziert.[8]

Auf Grund des fast zwei Jahrzehnte umfassenden Untersuchungszeitraums und der gegebenen Vergleichsmöglichkeiten mit dem Vorläuferprojekt bietet sich darüber hinaus die Möglichkeit, die Rolle der Tradierung von Governance-Wissen in diesen Aushandlungsprozessen um neue Regierungsformen zu überprüfen. Wir gehen davon aus, dass zumindest auf der Distriktebene trotz des politischen Umbruchs 1911 die bereits im Kaiserreich zu beobachtenden Vertreter der Elite und Repräsentanten korporativer Organisationen auch weiterhin bei der Bereitstellung von Governance-Leistungen aktiv waren. Daher stellt sich die Frage nach der Relevanz des in früheren Kooperationen akkumulierten Governance-Wissens für die hier untersuchte Periode. Dabei wird Governance-Wissen als ein implizites praktisches Know-how verstanden, als ein direktes und indirektes Erfahrungswissen, welches bei erfolgreicher Initiierung und Implementierung von Kooperationsnetzen zur Erbringung von Gemeinschaftsaufgaben erworben wurde und auf welches bei der Etablierung „neuer“ Formen von Governance in dieser Periode zurückgegriffen werden konnte. ( SFB-Ziel 5: Von der Produktion privater Güter zu Governance)

Wir gehen von der Annahme aus, dass dieses Governance-Wissen aus zwei Wissensgebieten tradiert und in den neuen sozial-ökonomischen Kontext „übersetzt“ wurde: (1) Wissen, welches in spätqingzeitlichen Kooperationen (D5, erste Phase) entstanden war und (2) Wissen, welches aus Kooperationen mit ausländischen Partnern resultierte. Hier wird in besonderer Weise auf Berater der Kommunistischen Internationale (Komintern) einzugehen sein, denen in der Forschungsliteratur allgemein eine maßgebliche Rolle bei der Formierung von Regierungsformen und Diskursen in der Provinz Guangdong zugesprochen wird (Wilbur/How 1989; àSFB-Ziel 4: Aneignungs- und Abwehrprozesse).

Begründung der Fallauswahl

Die Untersuchung konzentriert sich auf die Provinz Guangdong in den Jahren 1912-1928. Auch diese Provinz war gekennzeichnet durch Krieg und Bürgerkrieg und wies regionale Asymmetrien auf. In Guangdong erfolgte nicht nur ein häufiger Wechsel von Machthabern, sondern gerade hier wurde ab 1917 und ab den frühen 1920er Jahren von Sun Yatsen, dem sogenannten Provisorischen Präsidenten der chinesischen Republik, der allmähliche Aufbau staatlicher Strukturen begonnen, die 1928 zur Bildung der Nanjinger Nationalregierung führten. Zwei Faktoren sind von besonderer Wichtigkeit:

Erstens kann hier besonders gut beobachtet werden, wie Nationalismus, verbunden mit Antikolonialismus, Ideen der Verteilungsgerechtigkeit und des Sozialismus, welche sowohl von Sun Yatsen und weiten Teilen der Guomindang als auch von der später gegründeten Kommunistischen Partei Chinas geteilt wurden, als neue Legitimationsgrundlage konfuzianische Wertvorstellungen überlagerten bzw. ersetzten. Wir gehen davon aus, dass im kulturellen Gedächtnis nicht nur der Elite, sondern auch breiter Teile der Bevölkerung, Vorstellungen von einer harmonischen und gerechten Gesellschaft als gesellschaftliches Ideal existierten, die es ermöglichten, Reformvorstellungen und sozialistische Ideen positiv aufzugreifen.

Zweitens ist Guangdong ein herausragendes Beispiel für die komplizierten Prozesse des Ineinandergreifens von staatlichen Strukturen und Governance-Formen des Kaiserreiches und der Etablierung neuer republikanischer Strukturen und Governance-Formen auf Provinz-, Distrikt- und Stadtebene unter Einbeziehung transnationaler Akteure (vgl. Tsin 1999). Dabei wird zunächst in Anknüpfung an die Forschungsliteratur (Tsin 1999; Johnson/Peterson 1999; Chen 1999) von zwei Perioden ausgegangen, die in unterschiedlichem Grade durch begrenzte Staatlichkeit gekennzeichnet waren, wobei die Etablierung der zweiten Südregierung unter Sun Yatsen 1921 als Scheidelinie gilt.[9] Es wird zu überprüfen sein, ob sich die von uns zunächst übernommene Zweiteilung des Zeitraums tatsächlich auch in einer signifikanten Unterscheidbarkeit der zu beobachtenden Governance-Formen und -Modi niederschlug.

Begründung der Periodisierung

1912-1920: In dieser Periode sind zwar Bemühungen der wechselnden Pekinger Zentralregierungen zu beobachten, die Provinz Guangdong in den Zentralstaat einzubeziehen – und zwar vorwiegend durch politische Aushandlungsprozesse mit Akteuren auf der Provinzebene (Vertreter der Provinzversammlung und zivilgesellschaftlicher Organisationen sowie von Provinzmachthabern) –, de facto agierten die einander ablösenden und sich gegenseitig bekämpfenden jeweiligen Provinzführer jedoch unabhängig und wurden auch nicht von einem zentralstaatlichen Steuersystem erfasst. Stattdessen entwickelten die Militärmachthaber und ihre Helfer selbst nicht nur Ambitionen, sich als Vertreter einer neuen Zentralregierung durchzusetzen, sondern versuchten diese – zeitweise auch durch Allianzen mit politischen Führern und unter Einbezug der GMD als politischer Partei – in Kooperationen mit lokalen Akteuren zu sichern und mit republikanischen Parolen zu legitimieren. Schon im Revolutionsjahr 1911 rekrutierte der spätere Warlord Chen Jiongming (1878-1933) Truppen, erklärte sich selbst zum Führer dieser „revolutionären“ Armee, verbündete sich mit der Geheimgesellschaft der Triaden und wurde formal im November 1911 zum Vizegouverneur und im Januar 1912 zum Gouverneur der Provinz Guangdong ernannt. Diesen Posten hielt er bis 1913 und etablierte eine Militärherrschaft. Im Jahr 1913 erklärte sich Chen auch formal als von der Zentralregierung unabhängig. Nach dieser formalen Unabhängigkeitserklärung wurde Chen von Long Jiguang (1868-1925), einem Warlord der Nachbarprovinz, militärisch besiegt und aus Guangdong vertrieben. Long Jiguang wiederum, der sich als Gouverneur etabliert hatte, wurde 1916 von dem Warlord Lu Rongting (1856-1927) abgelöst. Auch diese Herrschaft währte nur kurz. Lu Rongting unternahm 1917 zusammen mit der sogenannten Guangxi-Clique und Sun Yatsen die Bildung einer ersten Südregierung mit dem Anspruch einer Nationalregierung, die bis August 1918 als ziviles Komitee der Militärregierung agierte. Von August 1918 bis Oktober 1920 stand die Provinz unter Kontrolle von Cen Chunxuan (1861-1933), der Ende 1920 allerdings wieder von Chen Jiongming vertrieben wurde – nicht zuletzt dank finanzieller Unterstützung durch die lokale Bevölkerung und die Guangdonger Landsmannschaften in Shanghai (Goodman 1995: 247). Die Etablierung einer neuen Regierung von Chen Jiongming, u.a. unter Beteiligung Sun Yatsens, schließt diese erste Periode ab, wenngleich die Kämpfe zwischen den militärischen Gruppen Chen Jiongmings und den auf dem Rückzug befindlichen Truppen Cen Chunxuans bis Juli 1921 andauerten.

Ende 1920 bis 1927: In dieser Periode wurde die Provinzhauptstadt Guangzhou (Kanton) Ausgangspunkt für den sich ab 1928 voll entfaltenden Prozess der Bildung eines modernen Nationalstaates und der Etablierung neuer Governance-Formen (Xu 2006). An diesen Prozessen waren neben den Warlords nicht nur die GMD und die KPCh als sogenannte Reformparteien beteiligt, sondern auch transnationale Akteure (u.a. Berater der Kommunistischen Internationale und Auslandschinesen) hatten hieran einen großen Anteil. So erfolgte 1921 zunächst die Gründung der zweiten Südregierung Sun Yatsens, die sich auf die Kooperation mit dem Warlord Chen Jiongming stützte; ein Jahr später zerbrach diese Allianz, doch 1923 siegte Sun Yatsen mit Unterstützung der Warlords aus Guangxi und Yunnan gegen den in Guangdong verblieben Chen und rief eine neue Regierung aus. Ab Anfang 1924 bildete Sun Yatsen unter Einbeziehung der KPCh und wesentlich beraten durch Komintern-Vertreter eine neue Regierung der Einheitsfront. Diese Regierung suchte ihren zentralstaatlichen Anspruch in den nächsten Jahren auch unter Nutzung vorhandener Warlord-Strukturen und mit militärischen Mitteln (u.a. Nordfeldzug ab 1926) zu realisieren (Lary 1974: 70-72). Unter der Führung von Chiang Kaishek (1887-1975) begann im Juli 1926 der Große Nordfeldzug. Im Dezember erfolgte die Verlagerung der Regierung von Guangzhou in das zentralchinesische Wuhan, im April 1927 zerbrach die Einheitsfrontregierung. Der Abzug der Truppen aus Guangdong hinterließ in der Provinz – so das dominante Narrativ in der Forschungsliteratur – erneut ein Vakuum, neue Militärmachthaber übernahmen die Provinz.

In dieser durch politische Instabilität und Unsicherheit geprägten Zeit wurden von den Einwohnern der Provinz insbesondere die Bereitstellung von physischer Sicherheit[10] und materieller Grundversorgung (Ernährung[11]) als wesentliche Governance-Leistungen wahrgenommen und in lokalen Boykott- und Streikbewegungen auch eingefordert.[12] Aus der Perspektive der Warlords bzw. Provinzmachthaber wiederum bedingten sich Sicherheit und Wohlfahrt des Volkes (Ernährung) gegenseitig. Die Bereitstellung von Sicherheit und Wohlfahrt war integraler Bestandteil und Voraussetzung für die Realisierung des strategischen Ziels, Kontrolle über Staat und Gesellschaft zu erlangen (Lin 2004). Diese strategischen Interessen teilten sie mit der lokalen Elite, die sich allerdings, wenn sie ihre Machtstellung durch die Etablierung formaler staatlicher Strukturen bedroht sah, auch gegen solche Versuche wandte und gegebenenfalls jene Kräfte unterstützte, von denen sie sich ihrerseits Unterstützung erwartete (Fitzgerald 1990: 332).[13]

Sicherheit bezieht sich dabei in erster Linie auf die Aufrechterhaltung öffentlicher Sicherheit innerhalb der Provinz im Sinne von institutionalisierter und selbstorganisierter Sicherheit sowie ihrer Mischformen (Chojnacki/Branović 2007). Zu berücksichtigen ist aber auch die jeweilige militärische Absicherung des Raumes gegenüber Versuchen anderer Akteure, diese Räume in ihren Herrschaftsbereich einzugliedern. Einmal wird dies erforderlich sein in den Fällen, in denen dies von der lokalen Gesellschaft als Aufrechterhaltung öffentlicher Sicherheit wahrgenommen wurde. Zum anderen dann, wenn unterschiedliche Akteure die zur Gewährleistung von Sicherheit und Ernährung etablierten Governance-Formen zur Ausweitung des Territoriums funktionalisierten. Die Projektergebnisse der ersten Phase und die Forschungsliteratur zur Republikzeit lassen vermuten, dass Ernährung und Sicherheit trotz wechselnder politischer Regimes gerade mittels Kooperationen unterschiedlicher Akteure für breite Kreise der Bevölkerung gewährleistet werden konnten (Li 2007; Culp 1994; Goodman 1995; McCord 1988; Li 2005). Denjenigen Akteuren, welche diese Leistungen erbrachten, wurde unter Bedingungen, die im Einzelnen noch zu bestimmen sind, Herrschaftslegitimität zugesprochen.

Bei den Akteuren unterscheiden wir (1) die quasi-zentralstaatliche Ebene, die sich auf die Provinz Guangdong bezieht; (2) die lokale Ebene (Distrikt) sowie (3) die transnationale Ebene. Die zentralstaatliche Ebene existierte dabei als diskursiver Bezugspunkt insofern, als einige Provinzmachthaber den Anspruch auf die Regierung des Zentralstaates erhoben. Auf der Provinzebene gab es unterschiedliche Konstellationen von zivilen und militärischen Machthabern, die mit staatlichen und nicht-staatlichen sowie transnationalen Akteuren kooperierten und manchmal auch in Konflikt miteinander gerieten.

Als nicht-staatliche oder halb-staatliche Akteure bei der Bereitstellung von Governance-Leistungen sind zunächst die kollektiven Akteure zu nennen, die bereits in der ersten Projektphase identifiziert wurden: Handwerker- und Kaufmannsgilden, Clans, Bruder- und Schwesternschaften, die auch als Geheimgesellschaften firmierten, Wohlfahrtsgesellschaften[14] und Landsmannschaften[15]. Hinzu kamen neue Akteure, die zum Teil in enger Beziehung zu traditionellen Akteuren standen (Huo Xinbin 2005a: 68 ff. und 2005b): Handelskammern, Gewerkschaften[16], Bauernvereinigungen, Arbeitermilizen (Dirlik 1997: 371), Rotgardisten (seit November 1925), Vereinigungen zur gegenseitigen Verteidigung, Gentry-Milizen und Händler-Milizen[17] ebenso wie die wichtigen Netzwerke von GMD und KPCh. Letztere wurden nach Errichtung der beiden kurzzeitigen Südregierungen bzw. mit der Errichtung der Einheitsfrontregierung im Jahre 1924 wieder zu staatlichen Akteuren. Aus all den genannten Gruppen rekrutierten sich auch jeweils die Dorfvorsteher, die auf lokaler Ebene ernannt und von staatlicher Seite zwar bestätigt, nicht aber in das staatliche System eingebunden wurden und als quasi-staatliche Akteure – Huang spricht von „semiformal personnel“ (Huang 2008: 16) – in besonderer Weise als „Verbindung zwischen Staat und Gesellschaft“ fungierten (Huang 2008: 10). Zu den transnationalen Akteuren zählen die Berater der Kommunistischen Internationale[18], individuelle deutsche Berater, Missionare, Vertreter ausländischer Regierungen und nicht zuletzt auch Auslandschinesen (Hsu 2000; Chen 2005; Chung 2006). Ein typisches Beispiel für die Kooperation von staatlichen, nichtstaatlichen und transnationalen Akteuren ist die Stadt Shantou, die in der zu untersuchenden Periode de facto gemeinsam von der Handelskammer, der Wohlfahrtsgesellschaft „Cunxin Shantang[19] und der Presbyterianischen Gemeinde „regiert“ wurde (Friedman 1970: 289).

Methoden und Operationalisierung

Die Forschungsliteratur zur frühen Republikzeit widmete sich bisher nur peripher Fragen von Governance, und zwar vornehmlich auf der Ebene der Zentralregierung und der Warlords. Nach dem Zusammenbruch des Kaiserreiches im Jahr 1911 begann – so die dominante Forschungsmeinung – eine Periode der „Desintegration des Staates“ und der starken Fragmentierung in unterschiedliche Herrschaftsbereiche, die sich räumlich immer wieder neu konstituierten (u.a. Remick 2004; Li 2007). Diana Lary sprach sogar von „the darkest period of China’s modern history“, die von großer Instabilität und der Aufweichung aller „bis dahin soliden” Institutionen gekennzeichnet gewesen sei (Lary 1980: 439 f.). Es dominierten – bis mindestens zur Bildung der Nanjinger Nationalregierung 1928[20] – spezifische Warlord-Regimes, von denen sich einige mittels Kontrolle der Hauptstadt und durch ausländische Unterstützung als Zentralregierung internationale Anerkennung verschafften. Ab Anfang der 1920er Jahre bildeten sich z.T. neben den Warlords, z.T. in Allianz mit diesen, allmählich die beiden um nationale und internationale Anerkennung konkurrierenden militärisch-politischen Netzwerke der KPCh und der GMD heraus, wobei letztere 1928 zwar den Anspruch als Zentralregierung auch durch internationale Anerkennung festigte, diesen jedoch nie ganz einlösen konnte.

In der Periode von 1912 bis 1928 waren das Gewalt- und Steuermonopol und die Regel(durch)setzungsfähigkeit der sogenannten Pekinger Zentralregierung, ebenso wie der in der Provinz Guangdong bzw. in Südchina als Nationalregierungen proklamierten beiden Südregierungen demgemäß in hohem Maße eingeschränkt. In der Forschung wurde nun aus der fehlenden Durchsetzungsfähigkeit des Zentralstaates geschlossen, dass auf der lokalen Ebene eine ähnliche Desintegration geherrscht habe (Duara 1988; Eng 1986: 15).

Dieses bislang dominante Narrativ hat jedoch ein großes Defizit: Es wird aus der Perspektive eines als Nation konstituierten Zentralstaates argumentiert, die lokale Ebene wird zu wenig einbezogen. Eine Verlagerung der Perspektive auf die Provinz- und Distriktebene zeigt hingegen, dass kein abrupter Abbau der kaiserlichen staatlichen Ordnung stattfand und von einer staatlichen Desintegration auf der Distriktebene nur bedingt gesprochen werden kann. So blieb – wie aus einzelnen Lokalstudien geschlossen werden kann – beispielsweise auf der subnationalen Ebene zunächst die kaiserliche bürokratische Struktur erhalten oder es gab personelle Kontinuitäten. Ehemalige Qing-Beamte wurden etwa zu Provinzgouverneuren ernannt und Distriktbeamte blieben in ihren Ämtern (Hu 1998: 436; McCord 1990). Auch Führer lokaler korporativer Organisationen und Vertreter der lokalen Elite agierten darüber hinaus durch die Provinzversammlungen[21] neben den Warlords/Provinzgouverneuren auf der Provinzebene. Neben den personellen Kontinuitäten gab es Kontinuitäten hinsichtlich des Weiterwirkens kultureller Werte, die das Weiterbestehen von lokalen Kooperationsformen ermöglichten (Suleski 2002: 218).

Eine gänzlich ungebrochene Kontinuitätslinie vom Kaiserreich zur Republik auf lokaler Ebene, wie dies Frederic Wakeman (1995) etwa für die Stadt Shanghai zu belegen sucht, ist allerdings ebenfalls zu hinterfragen. Denn nicht nur hatte sich der Charakter der lokalen Elite durch die Inkorporierung neuer sozialer Gruppen (in modernen Schulen ausgebildete Intellektuelle, Militärs, Kaufleute) verändert, auch die Legitimitätsbasis war einem stetigen Wandel unterworfen, indem nun – vermittelt durch Nationalismus-, Modernisierungs- und Reformdiskurse – die Erwartungshaltungen der verschiedenen sozialen (neuen) Schichten stärker in den Fokus gerieten (Rankin 1997: 262f). Sie artikulierten sich auch in politischen Protestaktionen (Boykott, Streik etc.), wie wir sie auch in der ersten Projektphase beobachten konnten.

Hier genau soll unser Teilprojekt ansetzen. Aus der Governance-Perspektive heraus richten wir den Blick auf die lokale Ebene, um auf der Grundlage mikrohistorischer Studien eine Rückbindung zur makrohistorischen Ebene vorzunehmen und zwar mit folgenden Ansätzen:

a) Mikrohistorischer Ansatz

Im Zentrum der Analyse stehen mikrogeschichtliche Fallanalysen in der Provinz Guangdong. Ausgangspunkt der Untersuchung ist also der Blick auf die Lokalgesellschaft und ihre Akteurskonstellationen und damit auf die lokale Politikebene und die lokalen Governance-Formen. Aufbauend auf den in der ersten Phase des Projekts modifizierten Konzepten von Interaktionsformen zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren und Kooperationsnetzen sowie der Identifizierung von Akteursgeflechten sollen in der zweiten Phase insbesondere Modi der nicht-hierarchischen Steuerung (Anreize, Sanktionen, bargaining, diskursive Praktiken) überprüft werden. Der mikrohistorische Blick ermöglicht die Untersuchung dieser Modi in ihrer Prozesshaftigkeit.

Darüber hinaus bietet dieser Ansatz die Möglichkeit, die räumlich und zeitlich divergierenden Prozesse der schrittweisen Institutionalisierung informeller Kooperationsnetze, aber auch des Abbaus von Institutionen systematisch zu erfassen und eine entsprechende Typologie zu erstellen.

Dem mikrohistorischen Ansatz wird fälschlicherweise vorgeworfen, „in bescheidener Kleinarbeit gewissermaßen die Lücken der großen Gesamtdarstellungen mit anschaulichen Material füllen zu wollen“ (Schlumbohm 1998: 27f.). Unsere Analyse der mikrohistorischen Fallbeispiele soll nicht lediglich zu einer Präzisierung oder Ergänzung makrohistorischer Synthese- und Entwicklungslinien „von unten“ führen, sondern sie soll – wie im folgenden deutlich wird – durch die Einbettung in die Makrogeschichte qualitativ neue Erkenntnismöglichkeiten auch für die Governance-Fragestellung bieten. Diesem Zweck dient die Einführung von verschiedenen Vergleichsebenen, durch die die mikrohistorische Arbeit vergleichend strukturiert werden soll.

b) Historischer Vergleich

Die einzelnen Fallanalysen, die einen Zeitraum von 17 Jahren umfassen, sollen hinsichtlich der Governance-Formen und -Modi miteinander verglichen und in Bezug zur quasi-zentralstaatlichen Ebene der Provinz gesetzt werden, die ihrerseits ein wichtiges Fallbeispiel unserer Untersuchung darstellt. Der synchrone Vergleich der auf der Mikroebene unternommenen Fallanalysen (intrakultureller Vergleich) wird im nächsten Schritt durch einen dezentrierenden Vergleich mit der Makrogeschichte ergänzt und erweitert (Medick 1994: 48), so dass eine systematische Betrachtungsweise der untersuchten Fallbeispiele und die Herausarbeitung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden von Governance-Prozessen sowie deren Erklärung möglich gemacht wird.

Der transkulturelle Vergleich (Osterhammel 2001) ermöglicht es, über China hinaus Bezüge zu Ansätzen der Governance-Forschung herzustellen und auf dieser Weise eine weitere Schärfung und begriffliche Klärung der Governance-Konzepte (z.B. Interaktionsformen, Steuerungsformen, Aushandlungsprozesse) vorzunehmen und die „Reisefähigkeit“ dieser Konzepte zu überprüfen. Dies geschieht insbesondere auch im Vergleich und in Kooperation mit anderen historischen Teilprojekten sowie durch die Mitarbeit in Querschnittsgruppen des SFB.

c) Diskursanalyse

Da die von uns untersuchten Governance-Formen und -Modi im engen Zusammenhang zu Governance-Diskursen stehen, ist es notwendig, mit Methoden der Diskusanalyse zu arbeiten. Für unseren Untersuchungszeitraum kann auf eine umfangreiche Materialgrundlage zurückgriffen werden, die diese Analyse ermöglichen: z.B. lokale Zeitungen, akteursbezogene Materialien, Parteidokumente und Gerichtsakten.

Die Diskursanalyse ist besonders geeignet, die Hauptargumentationslinien der verschiedenen Akteursgruppen und die Strategien diskursiver Steuerung herauszuarbeiten. So können der jeweils dem Staat und anderen Akteuren zugeschriebene Stellenwert sowie die an sie formulierten Erwartungen in Bezug auf die Bereitstellung von Governance-Leistungen bestimmt werden.

In zweierlei Hinsicht kann die Diskursanalyse dazu dienen, Fragen der Legitimität zu erfassen. Erstens kann durch sie eruiert werden, in welchem Zusammenhang eine effektive Erbringung von Governance-Leistungen mit dem Legitimitätsanspruch oder -zuspruch stand. Zweitens kann deutlich gemacht werden, wie die neuen Diskurse – etwa Nationalismus, Modernisierung oder Sozialismus – mit bestehenden Wertvorstellungen und Diskursen (Konfuzianismus) von verschiedenen Akteursgruppen instrumentalisiert wurden, um Legitimitätsansprüche zu begründen (à SFB-Ziel 4: Aneignungs- und Abwehrprozesse).

Darüber hinaus kann mittels Diskursanalyse festgestellt werden, ob und wie explizites Governance-Wissen vermittelt wurde. Die Frage nach der Tradierung impliziten Governance-Wissens allerdings kann nur mit transfergeschichtlichen Ansätzen beantwortet werden.

d) Transferanalyse

Da es sich bei den beiden oben genannten Arten von Wissenstransfer (Wissen aus spätqingzeitlichen Projekten, Wissen aus Kooperationen mit ausländischen Partnern) vorwiegend um implizites Wissen handelt, versuchen wir dieses an personellen oder strukturellen Kontinuitäten sowie an der Weiterführung oder Neuentstehung bestimmter Handlungsmodi festzumachen. Theorie und Methode der Transfergeschichte bieten hier erste Anknüpfungspunkte, wenngleich sie sich meist auf den Makrokontext und den interkulturellen Transfer beziehen (Espagne 1997; Paulmann 1998; Osterhammel 2001, 2003; Werner/Zimmermann 2002). Wir versuchen, diese Ansätze für die Herausarbeitung von Entwicklungslinien auf der mikrohistorischen Ebene nutzbar zu machen.

Arbeitsprogramm und Zeitplan

Das Arbeitsprogramm besteht aus fünf Arbeitsschritten:

1. Arbeitsschritt (Januar 2010 – August 2010): Auf der Grundlage der Forschungsliteratur sollen zunächst ein umfassender Forschungs- und Arbeitsbericht erstellt, die Fallstudien und weiter zu bearbeitende Materialien konkretisiert und das inhaltliche und methodische Konzept für die Qualifikationsarbeit erarbeitet werden. Materialgrundlage dafür ist die chinesisch- und westlichsprachige Forschungsliteratur, die zu einem Großteil in deutschen Bibliotheken vorhanden ist oder mittels der in Berlin zugänglichen chinesischen und taiwanesischen Datenbanken erfasst werden kann. Zugleich erfolgt die organisatorische und inhaltliche Planung der Archivaufenthalte.

2. Arbeitsschritt (September 2010 – Dezember 2011): Im Mittelpunkt des zweiten Arbeitsschrittes steht die umfangreiche Quellen- und Archivrecherche in europäischen (deutschen, russischen, britischen, schweizerischen), US-amerikanischen, chinesischen und taiwanesischen Archiven. Neben der Arbeit im Zweiten Historischen Staatsarchiv (Nanjing), in dem sich zentrale Aktenbestände der Republikzeit befinden, sind Recherchen in den Archiven und Bibliotheken in Peking und in Guangdong vorgesehen. Hier bestehen bereits hervorragende Arbeitskontakte zu den entsprechenden Institutionen und einzelnen Forschern. Unsere Materialgrundlage für diese Recherchen ist sehr gut, es gibt sowohl einen großen Bestand an bereits gedruckten Quellen, als auch umfangreiche und allgemein zugängliche Bestände in den Archiven. Allerdings sind die Archivbestände in einer Reihe von vor allem chinesischen Archiven nicht optimal aufbereitet und erfasst, ein großes Digitalisierungsprojekt wird gerade initiiert. Aus arbeitsorganisatorischen Gründen unterscheiden wir zwischen gedruckten Quellen und Materialien in Archiven, zu denen allerdings auch teilweise zeitgenössische Forschungsliteratur, Zeitschriften und „graue Literatur“ gezählt werden.

Bei den gedruckten Quellen handelt es sich in erster Linie um Lokalchroniken, die sich auf einzelne Distrikte oder auf die Provinz insgesamt beziehen. Ein Teil dieser Lokalchroniken ist in der vielbändigen Sammeledition Zhongguo fangzhi congshu (Sammlung der chinesischen Lokalchroniken) in der Staatsbibliothek Berlin vorhanden. Hinzu kommen vor 1994 publizierte chinesischsprachige Literatur und publizierte Quellen, die nicht in deutschen Bibliotheken vorliegen und noch nicht in Datenbanken erfasst sind. Dies erfordert Recherchen zunächst in chinesischen Bibliotheken, zum einen der Zentralbibliothek, den Bibliotheken der Peking-Universität, der Qinghua-Universität, der Renmin-Universität und des Instituts für Neuere Geschichte der Akademie für Sozialwissenschaften (alle Peking). Zum anderen sollen Recherchen in der Bibliothek der Zhongshan-Universität (Guangzhou) sowie in der National Central Library (Taipei) erfolgen, die ebenfalls über umfangreiche Bibliotheksbestände zur Republikzeit verfügen. Dies betrifft auch Zeitungen und Zeitschriften sowie „graue Literatur“ aus der Republikzeit, die in den genannten Bibliotheken und darüber hinaus in Teilen in der British Library (London) zugänglich sind. Sie sollen insbesondere zur Analyse der diskursiven Ebene herangezogen werden.

Die Archivmaterialien im engeren Sinne umfassen Beamtenberichte, Gerichtsakten, Handelsakten, Steuerakten, Akten der Wohltätigkeitsorganisationen, der Gewerkschaften, der sozialen Organisationen, der Stadtregierung Kanton und der beiden so genannten Südregierungen. Neben Einbeziehung von Beständen des Zweiten Historischen Archivs in Nanjing, in dem auch Teile der Provinzakten aufbewahrt werden, der Lokalarchive in der Provinz Guangdong (Provinzarchiv Guangzhou; Distriktarchive Jieyang und Panyu; Stadtarchive Shantou, Chaozhou und Foshan) sowie der National Archives in Taipei, welches Aktenbestände der GMD und der Warlord-Periode besitzen, sollen die Bestände deutscher Archive wie des Bundesarchivs Berlin, des Politischen Archivs des Auswärtigen Amtes, des Militärarchivs in Freiburg und der Archive der Berliner Mission (Landeskirchliches Archiv Berlin-Brandenburg) sowie der Vereinten Evangelischen Mission in Wuppertal ausgewertet werden. Signifikante Bestände zu anderen transnationalen Akteuren finden sich in den Nationalarchiven Großbritanniens (National Archives, London) und der USA (National Archives, Washington D.C.) sowie in ausländischen Missionsarchiven, die Bestände zu Aktivitäten der jeweiligen Missionsgesellschaften in Guangdong besitzen, nämlich in London (Presbyterianer) und Oxford (Baptisten) sowie in Basel (Basler Mission).

In den Archiven finden sich auch akteursbezogene Materialien, die von Fall zu Fall herangezogen werden sollen. Zum einen sind die Berichte und Nachlässe von Missionaren von Interesse, die teils gedruckt vorliegen, teils in den Akten der Missionen archiviert sind (Wuppertal, Basel, Berlin, London). Zum anderen sollen Erinnerungsliteratur, Nachlässe und Berichte chinesischer Akteure einbezogen werden (Provinzarchiv Guangzhou; Distriktarchive Jieyang und Panyu; Stadtarchive Shantou, Chaozhou und Foshan; National Archives und Archives of the Institute of Modern History, Academia Sinica, beide Taipei). Außerdem sollen politische Schriften und Reden sowie Akten und Berichte der verschiedenen politischen Bewegungen herangezogen werden. Dies betrifft die GMD (KMT Party Archives, Taipei; Zweites Historisches Archiv, Nanjing), die KPCh (The Database of the Communist Party of China, Renmin-Universität, Peking, teilweise online zugänglich, das Zweite Historische Archiv, Nanjing) und die Bestände der Komintern (Russisches Staatliches Archiv für Sozial- und Politikgeschichte und Außenpolitisches Archiv der Russischen Föderation, beide Moskau).

3. Arbeitsschritt (September 2011 – Juli 2012): In diesem Arbeitsschritt geht es um die Auswertung der Literatur und Archivmaterialien, die Ausarbeitung der Fallstudien und eine erste Synthese der Arbeitsergebnisse in inhaltlicher und methodisch-theoretischer Hinsicht. Eine erste Zusammenfassung der Ergebnisse wird auf dem geplanten Workshop „Governance in Republican China“ vorgestellt und in der Folge publiziert. Die ausgehend von den Fallstudien entwickelten Hypothesen sollen darüber hinaus in die Diskussionen der Querschnittsgruppen hineingetragen werden und hinsichtlich ihrer Bedeutung für die methodisch-theoretischen Fragen des SFB diskutiert werden.

4. Arbeitsschritt (August 2012 – Dezember 2012): Im August sollen die Arbeitsergebnisse des Teilprojekts und der Qualifikationsarbeit auf der XIX. Biennial Conference of the European Association for Chinese Studies (EACS) einem internationalen sinologischen Fachpublikum vorgestellt werden. Im Zuge eines weiteren Chinaaufenthaltes sollen dann durch vertiefende Recherchen Materiallücken geschlossen werden. Die Erfahrungen aus der ersten Projektphase haben gezeigt, dass solche vertiefenden Recherchen insbesondere in den lokalen Archiven in China (siehe Materialgrundlage Arbeitsschritt 2) notwendig sind. Darüber hinaus soll der Aufenthalt dazu dienen, die vorliegenden Ergebnisse mit chinesischen Fachwissenschaftlern zu diskutieren: ein Workshop mit den Kollegen vor Ort und eine gemeinsame Publikation in China sind geplant.

5. Arbeitsschritt (Januar 2013 – Dezember 2013): Die Niederschrift der Projektergebnisse sowie der Qualifikationsarbeit (bis Ende September 2013) stehen im Vordergrund des letzten Arbeitsschrittes. Sie sollen im Frühjahr auf dem Annual Meeting der Association for Asian Studies (AAS) in den USA und im Herbst auf der Jahrestagung der Deutschen Vereinigung für Chinastudien (DVCS) vorgestellt werden. Geplant sind deutsch-, englisch- und chinesischsprachige Publikationen. Gegebenenfalls wird es in dieser Abschlussphase notwendig sein, punktuelle Material- und Literaturergänzungen in Moskau und in Peking vorzunehmen und weitere Fachgespräche mit den Kollegen vor Ort zu führen.

In der dritten SFB-Phase (Jahre 2014 – 2017) soll die Untersuchung von Governance-Formen und -Leistungen für die Periode zwischen 1927 und 1951 fortgeführt werden, in der regionale politisch-militärische Machthaber miteinander konkurrierten. Dabei erhoben sowohl die Nanjing-Regierung der GMD, als auch durch Japan gestützte so genannte Marionetten-Regierungen sowie die von der KPCh ausgerufenen Sowjetregierungen und ab 1949 die Regierung der Volksrepublik jeweils zentralstaatlichen Anspruch und suchten diesen mit militärischen und politischen Mitteln durchzusetzen. Bis 1951 konnte de facto die KPCh mit der Volksrepublik diesen zentralstaatlichen Anspruch auf dem Festland durchsetzen, während die GMD mit dem gleichen Anspruch Taiwan kontrollierte. In der dritten SFB-Phase sollen insbesondere die Nachhaltigkeit von Governance-Formen und Kontinuitäten bzw. Diskontinuitäten spezifischer kultureller Komponenten analysiert und präziser theoretisch bestimmt werden. Auf diese Weise kann ein wichtiger Beitrag zu einem der zentralen Ziele des SFB für die dritte Förderperiode geleistet werden: der Untersuchung von langfristigen Folgen neuer Governance-Formen im Hinblick auf die Entwicklung von Staaten und deren Konsequenzen für die Theoriebildung.

Stellung innerhalb des Sonderforschungsbereichs

Unser Projekt greift mehrere der zentralen Fragestellungen des SFB auf: Wie gestalten sich hierarchische und nicht-hierarchische Governance-Modi? Lässt sich im Untersuchungszeitraum eine Verstetigung der Governance-Formen feststellen, die mit einer Institutionalisierung der Kooperationsformen und einer zunehmenden Herstellung von Kollektivgütern einhergeht? Welche wechselseitige Beeinflussung zwischen effektiver Erbringung von Governance-Leistungen und der den einzelnen Akteuren zugesprochenen sowie der von ihnen beanspruchten Legitimität lässt sich beobachten? Welche Prozesse der Aneignung und der Abwehr, die zwischen den verschiedenen Akteuren auf der Diskurs- und Praxisebene stattfinden, lassen sich feststellen? Schwerpunktmäßig beschäftigt sich das Projekt mit der Erbringung der Gemeinschaftsgüter Ernährung und Sicherheit und gliedert sich damit in den Projektbereich D „Wohlfahrt und Umwelt“ ein.

Wie bereits in der ersten Projektphase werden Kooperationen staatlicher, nicht-staatlicher und transnationaler Akteure zur Erbringung der Governance-Leistungen untersucht. Unsere historischen Befunde sollen auch in der nächsten Projektphase dazu dienen, Formen staatlich/nicht-staatlicher Kooperationen in Räumen begrenzter Staatlichkeit, wie sie etwa in den Teilprojekten D1 Liese/Beisheim, D2 Börzel und D3/T1 Fuhr/Lederer untersucht werden, historisch zu kontextualisieren. Anders als in der ersten Phase wird unser empirischer Fokus allerdings auf den Modi der Handlungskoordination liegen. Hierbei bietet sich eine enge Zusammenarbeit mit den Teilprojekten B6 Harders, B10 Esders, D1 Liese/Beisheim, D4 Enderlein und D7 Lütz an, die in ihren Untersuchungen ebenfalls auf Steuerungs- und Aushandlungsprozesse eingehen, ohne diese jedoch als zentralen Untersuchungsgegenstand abzuhandeln.

Das Projekt ist angesichts seiner Fokussierung auf die Republikzeit besonders gut geeignet, ökonomische, militärische und politische Faktoren für die Effektivität von Governance-Leistungen auszumachen und in ihrer Bedeutung zu gewichten. Es kann ebenfalls in besonderem Maße verdeutlichen, in welchem Verhältnis die Erbringung von Governance-Leistungen (Output-Legitimität) und die territoriale Verschiebung von Räumen begrenzter Staatlichkeit (Herrschaftssicherung vs. Herrschaftserweiterung) stehen. Die Untersuchung von Aneignungs- und Abwehrprozessen bietet Querbezüge zu den Projekten C4 Lehmkuhl/Finzsch,C5 Rinke, D1 Liese/Beisheim und D7 Lütz. In Bezug auf die Frage der Legitimität bietet sich – vor allem in methodisch-theoretischer Hinsicht – die Zusammenarbeit mit dem Projekt B9 Ladwig an.

Die Problematik des Verhältnisses der Bereitstellung physischer Sicherheit als Governance-Leistung und ihrer Funktionalisierung zur Machtausweitung bietet Anknüpfungspunkte zu den Projekten im C-Bereich, insbesondere zum Projekt C2 Chojnacki.

Als historisches Teilprojekt, das Governance-Formen in transitiven Räumen außerhalb der OECD-Staaten untersucht, tragen wir zur historischen und soziokulturellen Kontextualisierung der Governance-Problematik bei. Die zeitliche und räumliche Anknüpfung an die erste Phase ermöglicht es, Governance-Modi und -Strukturen auch über historische Brüche hinweg, wie ihn etwa der Untergang des Chinesischen Kaiserreiches im Jahr 1911 darstellt, zu analysieren. Durch die Berücksichtigung von verschiedenen Akteursebenen sowie durch die Einbeziehung der Komponenten Governance-Wissen und Governance-Diskurs kann auch eine stärkere soziokulturelle Einbettung von Governance-Formen geleistet werden. Das wird die These unterstützen, dass es notwendig ist, den spezifischen soziokulturellen Kontext als (abhängige) Variable in der theoretischen Fassung von Governance zu berücksichtigen. Überdies ermöglicht die Bezugnahme auf das Vorläuferprojekt die Bedeutung des Transfers von Governance-Wissen für die Prozesse der Etablierung von Governance-Formen aufzuzeigen.

In diesem Zusammenhang ist eine engere Zusammenarbeit mit den historischen Projekten C4 Finzsch/Lehmkuhl, B 10 Esders und C5 Rinke notwendig. Wir hoffen, gemeinsam Aussagen über transitive Situationen beziehungsweise über bestimmte Herrschaftskonstellationen als Kennzeichen von Räumen begrenzter Staatlichkeit treffen zu können und Diskurse als kulturelles Element der Wahrnehmung bzw. als kulturelle Komponente für die Legitimität einer ordnungsschaffenden neuen Herrschaft, sei sie intendiert oder nicht-intendiert, fruchtbar machen zu können. Durch die Einbindung der Mitarbeiter in die Querschnitts-Arbeitsgruppen zur Governance-Problematik und zur Konzeptionalisierung von Räumen begrenzter Staatlichkeit trägt das Teilprojekt zur Theorie- und Begriffsbildung des SFB bei.'

 


[1]     Statt des in der Literatur dominanten Begriffs „Warlords“ (bzw. „Warlordism“ für diese Periode) verwenden wir auch den Begriff des „militärisch-politischen (Provinz-)Machthabers“. Es wird im Laufe des Projektes zu klären sein, ob gerade auch unter Governance-Aspekten der Begriff „Warlord“ zu stark präfiguriert ist und einer Modifizierung und Ausdifferenzierung bedarf.

[2]    Aufgrund der Fülle des verfügbaren empirischen Materials erfolgte eine Konzentration auf die Bereiche Ernährung und Bildung, so dass die ursprünglich vorgesehene Untersuchung des dritten öffentlichen Gutes: Wasserversorgung zurückgestellt wurde.

[3]     In der Sinologie wurde in den 1990er Jahren eine Debatte um die Anwendbarkeit einer Unterscheidung von Staat und Gesellschaft auf die chinesische Geschichte geführt, die primär auf Jürgen Habermas‘ „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ Bezug nahm.

[4]     Siehe die Publikationsliste unter 3.3.2

[5]     Das konfuzianische Gesellschaftsideal wurde allerdings stets mit einem legalistischen Verständnis von Regierung durch Gesetze, Bestrafung und Bürokratie verbunden, welches für die Einhaltung der Ordnung und für Disziplin und Hierarchie stand.

[6]     Auf der untersten offiziellen Verwaltungsebene waren etwa 1300 Kreisbeamte für zuletzt rund 400 Millionen Einwohner zuständig.

[7]     Duara, der die Setzung dieser Binaritäten in der historischen Wirklichkeit nicht beobachten kann, führt diese kategoriale Dichotomisierung letztlich auf westliche modernisierungstheoretische Ideologien eines Nationalstaates zurück (Duara 2008: 157).

[8]     Vgl. dazu insbesondere die in der Zeitschrift „Modern China“ 2008 publizierten Beiträge westlicher und chinesischer Autoren zur Natur des chinesischen Staates. Huang etwa grenzt sich einerseits von der Weberschen These der „patrimonialstaatlichen Verwaltung“ und andererseits von der These Manns, dass der Staat „high despotic power but low infrastructural power“ besessen habe, ab. Er entwickelt demgegenüber die These, dass die in der späten Kaiserzeit herrschenden semi-formalen Formen des Regierens zur Durchführung eines zentralisierten Minimalismus durch die Qing-Regierung geführt habe, welche auch in den nachfolgenden Perioden „good governance“ verkörpert habe und spezifisches Charakteristikum politischer Kultur in China sei (Huang 2008:9-35).

[9]     Es ist bezeichnend, dass die nachfolgende Darstellung der Machtwechsel auf Provinzebene aus einer Vielzahl von Quellen zusammengestellt werden musste – das dominante Narrativ, der Fokus der Forschung, richtet sich noch immer ganz überwiegend auf die nationale Ebene.

[10]    Allein die Tatsache, dass zahlreiche korporative Organisationen, Bauernvereinigungen, Gewerkschaften, lokale Elite und Lineages eigene Milizen gründeten, ist ein Zeichen für den Bedarf nach Sicherheit, vgl. auch McCord 1988: 176 ff, 182.

[11]    Zwar waren in der relativ wohlhabenden Provinz Guangdong im Unterschied zum nördlichen China Hungersnöte eher selten, doch auch hier gab es insbesondere im Winter Nahrungsmittelknappheit (Faure 1989: 57). Zudem führten im Jahre 1915 und im August 1922 große Überschwemmungen zu Nahrungsengpässen. Die Präfektur Chaozhou und der Kreis Mei waren im Januar 1918 in Folge eines Erdbebens von Nahrungsmittelknappheit betroffen.

[12]    Ab 1921 gab es Streikwellen in den städtischen Gebieten (1921, 1925), an denen verschiedene Gewerkschaften beteiligt waren und die auch zu direkten Konfrontationen mit den Kolonialmächten führten (16-monatiger Boykott britischer Waren ab 1925). Zudem wurden ländliche Sowjets errichtet und Grundbesitzer vertrieben.

[13]    Beispielsweise unterstützte die lokale Elite 1925 in Ost-Guangdong den Warlord Chen Jiongming gegen die von Sun Yatsen etablierte Regierung; Chen wurde aus ähnlichen Gründen auch in Süd-Guangdong von der lokalen Elite gegen den Warlord Deng Benyin unterstützt.

[14]    Die Minglun Tang in Dongguan beispielweise, einer der größten korporativen Landbesitzer in der Provinz Guangdong, unterstützte Schulen, baute die Infrastruktur aus und fungierte u.a. als Wohlfahrtseinrichtung (Eng 1986: 18).

[15]    Neben der alten Form der Landsmannschaft (huiguan) entwickelten sich parallel auch modernere Formen (tongxianghui), die ihre Basis jeweils in den einzelnen Kreisstädten hatten und sowohl translokale als auch transnationale Akteure mobilisieren und deren Ressourcen (remittances) nutzbar machen konnten (Goodman 1995: 240-44).

[16]    Mitte 1926 gehörten etwa 200.000 Arbeiter zu 120 Gewerkschaften, die sich zusammenschlossen zum Kantoner Arbeiter-Delegierten-Kongress, der als von der KPCh kontrolliert galt. Darüber hinaus gab es die Guangzhou General Labour Union und die Mechanics Union. Letztere stand in Gegensatz zur KPCh und verfügte ab etwa 1926 über eine eigene militärische Einheit, das Korps zur körperlichen Erziehung (tiyu dui). Zur frühen Gewerkschaftsbewegung in Kanton siehe auch Chen Weimin (1995).

[17]    Sie wurden 1924 von Kantoner Händlern gegründet, um sich gegen die hohe Besteuerung durch die Regierung zu behaupten (Zhang 2002: 107).

[18]    Die Involvierung der Kommunistischen Internationale in die gesamte Entwicklung Guangdongs, einschließlich ihres Einflusses auf die KPCh, die GMD und deren politische Einheitsfront, wird in der Literatur breit diskutiert, allerdings wird auch hier ihre Rolle bezüglich unserer Thematik bisher nicht untersucht; vgl. dazu insbesondere die Dokumentenbände Kuo u.a. (1996) und Leutner u.a. (1998).

[19]    Diese Wohlfahrtsgesellschaft selbst wurde als eine Kooperation unterschiedlicher lokaler Akteure geführt.

[20]    Auch in der nachfolgenden Periode, die in der Forschungsliteratur keineswegs als „Warlord-Periode“ behandelt wird, agierten etliche Provinzgouverneure de facto unabhängig von der Zentralregierung und etablierten, wie beispielsweise Chen Jitang in Guangdong von 1929 bis 1936, ein Warlord-Regime (Lin 2002:177).

[21]    Im Jahre 1909, also vor dem Sturz des Kaiserreiches, waren auf Provinzebene jeweils Vertreter der lokalen Elite in Provinzversammlungen als erste Versuche einer konstitutionellen Monarchie berufen worden. Diese Provinzversammlungen existierten nach 1911 fort – ihre genaue Positionierung im Akteursgeflecht der Provinz Guangdong ist im Laufe des Projektes noch näher zu bestimmen.