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Herbstnewsletter 2016

24.08.2016

Editorial

Der Beginn des Wintersemesters steht schon fast wieder vor der Tür und die Arbeit des Sonderforschungsbereichs 700 nähert sich langsam der Zielgeraden. Die Vorbereitungen für die Abschlussveranstaltungen des SFB im nächsten Jahr haben bereits begonnen. Unsere Forscherinnen und Forscher arbeiten deshalb mit Hochdruck an der Auswertung der Forschungsergebnisse und an finalen Publikationen. Die wissenschaftlichen Mitarbeiter/innen des SFB Luisa Linke-Behrens, Anton Petrov und Leon Schettler berichten in diesem Newsletter daher von Reisen und Feldforschungen in Tansania, Großbritannien und Haiti, welche sie im Rahmen ihrer Forschungsarbeiten unternommen haben.

Das bisherige Jahr 2016 verlief auch darüber hinaus für den SFB 700 sehr produktiv und begann mit einer erfolgreichen Teilnahme an der 57. Annual Convention der International Studies Association (ISA) in Atlanta, USA. In den letzten Wochen und Monaten fanden zudem verschiedene Veranstaltungen im Haus und bei unseren Kooperationspartnern statt, über die wir Sie ebenfalls an dieser Stelle gerne informieren möchten. Wir freuen uns des Weiteren, ihnen die aktuellen Gastwissenschaftler/innen am SFB und die neusten Publikationen vorstellen zu können.

Wir wünschen Ihnen wie immer viel Spaß bei der Lektüre und freuen uns sehr auf ihr Feedback!

Herzliche Grüße

Ihr

Thomas Risse
Sprecher des SFB 700

Der SFB begrüßt Gastwissenschaftler und Gastwissenschaftlerinnen

Prof. Dietlind Stolle

Prof. Dietlind Stolle

Prof. Stephen D. Krasner

Prof. Stephen D. Krasner

Prof. Shalini Randeria

Prof. Shalini Randeria

Der SFB 700 freute sich sehr, Prof. Dietlind Stolle von der McGill Universität in Montréal, Kanada als neuen Mercator Fellow willkommen heißen zu dürfen. Als Professorin für Politikwissenschaft und Direktorin des Centre of the Study of Democratic Citizenship (CSDC) war Dietlind Stolle von Ende April bis Ende Juli 2016 am Sonderforschungsbereich als Fellow eingebunden. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen u.a. die politische Rolle von Vereinen, Vertrauen, institutionelle Grundlagen des Sozialkapitals, politische Mobilisation sowie neue Formen der politischen Partizipation. Den SFB 700 unterstützt Prof. Stolle vor allem mit ihrer Expertise zu sozialem Vertrauen und Institutionenvertrauen in Räumen begrenzter Staatlichkeit. In diesem Zusammenhang hielt Dietlind Stolle auch ein Vortrag am SFB mit dem Titel „The Sources of Generalized Trust“. Den Vortrag in voller Länge können Sie sich hier als Video anschauen.

Des Weiteren waren auch die Mercator Fellows Prof. Stephen D. Krasner von der Stanford University und Prof. Shalini Randeria vom Graduate Institute of International and Development Studies in Genf bzw. dem Institut für die Wissenschaften vom Menschen in Wien zum wiederholten Male am SFB zu Gast.

Wir bedanken uns für den produktiven Austausch und freuen uns auf die weitere Zusammenarbeit mit allen Mercator Fellows.

Erfolgreiche ISA Teilnahme des SFB 700 in Atlanta

Besucher des SFB/KFG-Empfangs auf der ISA in Atlanta, USA

Besucher des SFB/KFG-Empfangs auf der ISA in Atlanta, USA

Vom 16. bis 19. März nahm der Sonderforschungsbereich 700 zum wiederholten Mal sehr erfolgreich an der Annual Convention der International Studies Association (ISA) teil, welche dieses Jahr in die 57. Runde ging und in Atlanta, Georgia stattfand.

Der SFB 700 präsentierte sich mit einer großen Bandbreite von Veranstaltungen auf der Konferenz. Insgesamt reisten elf Wissenschaftler/innen des SFB nach Atlanta und stellten in neun Panels und einem „Runden Tisch“ die  Forschungsergebnisse ihrer Teilprojekte und aktuelle Publikationen vor. Auf einem vom SFB organisierten Panel wurde beispielsweise gefragt: „Areas of Limited Statehood: What Makes State and Non-state Governance Effective and Legitimate?” Thomas Risse und Tanja Börzel nutzten die Konferenz, um eine ihrer aktuellsten Veröffentlichung vorzustellen: Das Handbook of Comparative Regionalism erschienen bei Oxford University Press.

Ein Höhepunkt war wie jedes Jahr der gemeinsam mit der Kolleg-Forschergruppe (KFG) „The Transformative Power of Europe“ ausgerichteter Empfang für alle interessierten Gäste und Expert/innen, sowie Freundinnen und Freunde beider Institutionen. Etwa 250 Gäste nutzen im Anschluss an die Grußworte des SFB-Sprechers und KFG-Ko-Direktors Thomas Risse sowie der KFG-Ko-Direktorin Tanja Börzel die Gelegenheit, sich mit den Wissenschaftler/innen der Teilprojekte auszutauschen und sich über die Arbeit des SFB zu informieren.

Der SFB 700 war außerdem mit einem Buch- und Informationsstand auf der Konferenz vertreten, der gut besucht war und auf großes Interesse stieß.

Impressionen von der Konferenz finden sie hier.

T3 Workshop an der Akademie des Auswärtigen Dienstes

Workshop in der Akademie des Auswärtigen Dienstes

Workshop in der Akademie des Auswärtigen Dienstes

Vom 14.-17. März 2016 organisierte das Transferprojekt T3 -  Policy-Implikationen der Governance-Forschung für die deutsche Außenpolitik zusammen mit dem Kooperationspartner Auswärtiges Amt das ressortübergreifende Ausbildungsseminar „Gemeinsam für Sicherheit und Entwicklung - Handlungsrahmen, Ziele und Prinzipien ressortgemeinsamen Engagements in fragilen Staaten“.

Neben dem derzeitigen Attaché-Jahrgang des Auswärtigen Amtes nahmen Nachwuchskräfte der Bundesministerien für Verteidigung sowie für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung am Seminar teil. Die Veranstaltung fand in der Akademie Auswärtiger Dienst in Tegel statt.

Das Seminar vermittelte die besonderen Bedingungen eines außen-, entwicklungs- und sicherheitspolitischen Engagements in Räumen begrenzter Staatlichkeit und bot Gelegenheit für Einblicke in die institutionellen Logiken und praktischen Arbeitsweisen der beteiligten Ressorts.

Autorenworkshop zum „Oxford Handbook of Governance and Limited Statehood“

Autorenworkshop zum „Oxford Handbook of Governance and Limited Statehood“

Autorenworkshop zum „Oxford Handbook of Governance and Limited Statehood“

Vom 22.-23. April 2016 fand im Seminaris-Campus Hotel Berlin-Dahlem der erste Autorenworkshop für das geplante „Oxford Handbook of Governance and Limited Statehood“ statt.

In insgesamt acht Sitzungsblöcken stellten die Autorinnen und Autoren zunächst kurz den geplanten Aufbau und Inhalt ihrer Kapitel vor. Anschließend diskutierten die gut 40 Teilnehmenden – darunter viele internationale Gäste – angeregt zu den verschiedenen Themenfeldern. Im Mittelpunkt standen dabei beispielsweise verschiedene Akteursgruppen in Räumen begrenzter Staatlichkeit wie internationale Organisationen oder Unternehmen. Andere Kapitel werden sich mit unterschiedlichen Governance-Leistungen z.B. in den Bereichen Sicherheit oder Gesundheit auseinandersetzen. Weitere Beiträge analysieren die Policy-Implikationen der Forschung des SFB 700.

Die Programmübersicht zum Workshop finden Sie hier.

Workshop zu Legitimität und Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit

Workshop zu Legitimität und Governance

Workshop zu Legitimität und Governance

Vom 10.-11. Juni 2016 fand im Hauptgebäude des SFB 700 der erste Autorenworkshop für ein geplantes Special Issue zum Thema Legitimität und Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit statt. 

Unter dem Titel „Legitimacy and Governance in Areas of Limited Statehood: Theoretical and Empirical Perspectives” luden Cord Schmelzle und Eric Stollenwerk als Herausgeber des geplanten Sonderheftes zu dem Workshop ein. Mehr als 15 nationale und internationale Experten/innen zum Thema Legitimität nahmen an dem Workshop teil und diskutierten die diversen Beiträge, die sich dem Thema sowohl aus theoretischer als auch aus empirischer Perspektive näherten. So wurden beispielsweise konzeptionelle Beiträge zum Verständnis von staatlicher und nicht-staatlicher Legitimität besprochen, aber auch empirische Beiträge, die sich beispielsweise mit Staatslegitimität in Sri Lanka oder der Legitimität externer Akteure in Afghanistan befassten. Sowohl die Erklärung von Legitimität als auch die Auswirkungen von Legitimität in Räumen begrenzter Staatlichkeit waren zentrale Aspekte der Veranstaltung. In insgesamt zehn inhaltlichen Blöcken, stellten die Autoren/innen ihre Beiträge in Kurzpräsentationen vor. Im Anschluss wurden die Beiträge von jeweils zwei Teilnehmern/innen intensiv diskutiert bevor die Diskussion für das gesamte Plenum geöffnet wurde.

Der nächste Workshop zur geplanten Publikation wird voraussichtlich im Frühjahr 2017 stattfinden.

Die Programmübersicht zum Workshop finden Sie hier.

Gesundheitsversorgung von Müttern und Kindern in Tansania und Südafrika: Was leisten externe Akteure?

Trakt im Distriktkrankenhaus von Masasi, Tansania

Trakt im Distriktkrankenhaus von Masasi, Tansania

Wie stark müssen staatliche Strukturen sein, damit internationale Akteure effektiv Governance leisten können? Diese Frage untersuche ich im Rahmen des Teilprojektes B2 – Der Governance-Beitrag externer Akteure in Räumen begrenzter Staatlichkeit und konzentriere mich dabei auf Mütter- und Kindergesundheit in Tansania und Südafrika. Der Bereich Gesundheit zieht vor allem in Sub-Sahara Afrika Milliarden US-Dollar an Entwicklungshilfe an. Gleichzeitig sind in diesem Feld eine Vielzahl von internationalen und Nichtregierungsorganisationen sowie bilaterale Geber aktiv. Sowohl in der Praxis als auch in der Wissenschaft rückt dabei die Stärke staatlicher Strukturen zunehmend in den Vordergrund als eine Erfolgsbedingung für Entwicklungszusammenarbeit bzw. Governance-Leistungen. In meiner Forschung dient Tansania als Fallbeispiel für einen relativ schwachen Staat und Südafrika für einen eher starken. Anfang des Jahres habe ich beide Länder für je vier Wochen bereist, um Experteninterviews mit externen Akteuren und Ministeriumsmitarbeitern zu führen und Dokumente zu sammeln.

In Tansania ist das Akteursfeld unübersichtlich; viele bekannte Organisationen und Geber geben auf ihrer Website und im Gespräch an, Mütter- und Kindersterblichkeit zu bekämpfen. Auf genaue Nachfrage stellt sich dann allerdings oftmals heraus, dass die Anzahl von konkret fassbaren Projekten weit geringer ist als suggeriert wird, und diese in der Regel von einer Vielzahl von Akteuren zusammen durchgeführt werden. Wenn ich also in Interviews bei vier verschiedenen Organisationen von Projekten gehört habe, es sich aber tatsächlich um ein und dasselbe Projekt gehandelt hat, ist der überhaupt mögliche Effekt auf die lokale Gesundheitsversorgung deutlich kleiner als zunächst angenommen. Tatsächlich bestätigen viele Interviewpartner, dass das Akteursfeld schlecht koordiniert ist. Das Gesundheitsministerium ist vor allem aufgrund von Personalmangel und überkomplexen bürokratischen Prozessen nur teilweise in der Lage, der Koordinationsaufgabe nachzukommen. Dennoch scheinen kleinere Projekte durchaus effektiv zu sein, wie durch Evaluationsberichte der Akteure deutlich wurde. Denn die Projekte werden zwar in der Konzeptionsphase mit dem Gesundheitsministerium abgesprochen, danach aber weitgehend autonom von den Organisationen und Gebern umgesetzt. So sind sie nur teilweise auf die Stärke staatlicher Strukturen angewiesen.

Über Interviews hinaus konnte ich einen direkten Einblick in die ländliche Gesundheitsversorgung Tansanias gewinnen. Ich begleitete ein Team der GIZ nach Masasi in der Region Mtwara an der südlichen Grenze des Landes, um dort im Distriktkrankenhaus einem zweitägigen on the job training auf der Neugeborenen- und Geburtsstation beizuwohnen. Diese Art von Training ist eine weit verbreitete Projektmaßnahme und wird von einer Vielfalt von Akteuren in Tansania durchgeführt. Durch die Auffrischung und Erweiterung der Kenntnisse von Schwestern und Ärzten soll ein nachhaltiger Beitrag zur Reduzierung von Mütter- und Neugeborenensterblichkeit geleistet werden. Zunächst einmal ist allein die Tatsache, dass es überhaupt eine Neugeborenen-Station gibt, eine Besonderheit im ländlichen Tansania. Dennoch fehlt es auf den ersten Blick an allem: Die Mückennetze über den Betten sind kaputt und gewährleisten so keinen Schutz gegen Malaria; keiner der Wasserhähne funktioniert und Instrumente werden mit Regenwasser in Plastikeimern sterilisiert; der Strom fällt mehrmals täglich aus; es sind über 40 Grad in den Zimmern und den Müttern und Neugeborenen steht der Schweiß auf der Stirn. Doch trotz alldem: Hier werden täglich Leben gerettet. Wie effektiv dieses Training allerdings langfristig ist, wird sich erst in ein oder zwei Jahren, wenn das GIZ-Team zurückkehrt, zeigen. Als hier vor einiger Zeit ein ähnliches Training von einer anderen Organisation durchgeführt wurde, wurden Materialien zur Erfassung der Patientendaten mitgebracht, die nun aber unbenutzt in einer Ecke lagen. Offenbar ist hier die Aktion der Geberorganisation im Sand verlaufen.

In Südafrika ist die Situation im Gesundheitssektor eine gänzlich andere. Hier ist der Großteil externer Ressourcen an die Bekämpfung von HIV/AIDS gebunden und andere Gesundheitsfelder bleiben schlichtweg außen vor. Dieser Trend entpuppt sich zunehmend als Problem für Bereiche wie Müttergesundheit, wo nach wie vor grundlegende Unzulänglichen in der Versorgung existieren. Im Vergleich zu Tansania sind also weit weniger Akteure im Bereich Mütter- und Kindergesundheit aktiv. diese stehen jedoch sehr viel enger mit dem Ministerium in Verbindung und sind gut koordiniert. Anstatt vieler kleiner Trainingsprogramme wie in Tansania, gibt es hier eine große Initiative, die von Großbritannien und der EU finanziert, über das Ministerium koordiniert und von der Universität von Pretoria ausgeführt wurde. Es wurden Trainings in vielen Krankenhäusern des Landes durchgeführt und die Ergebnisse sind beeindruckend. Dennoch klagen die Akteure hier über Parteikonflikte, die durch die Bürokratie auch in eher technische Politikfelder wie Gesundheit hineingetragen werden und den Umsetzungsprozess maßgeblich verlangsamen.

Während meines Aufenthaltes sind deutliche Differenzen zwischen den Ländern sowohl im Hinblick auf die Rolle internationaler Organisationen und bilateraler Geber in der Gesundheitsversorgung als auch der Rolle und Kapazität der staatlichen Strukturen erkennbar geworden. In Tansania spielen externe Akteure eine weit größere Rolle als in Südafrika, sind aber wegen unzulänglicher bürokratischer Kapazität der staatlichen Strukturen weniger gut koordiniert. Gleichzeitig erscheint ein hohes Maß an Staatlichkeit nicht unbedingt notwendig zu sein für die effektive Umsetzung einzelner (kleinerer) Projekte. Insofern lässt sich die These aufstellen, dass das Maß an Staatlichkeit nicht notwendigerweise für die Effektivität einzelner Projekte, sondern für den Impact der externen Akteure auf die Gesundheitsversorgung insgesamt relevant ist. In diesem Sinne hat der Aufenthalt einen wichtigen Beitrag zur Forschungsagenda des B2-Projektes leisten können.

Über die Autorin:

Luisa Linke-Behrens ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Teilprojekt B2 – Der Governance-Beitrag externer Akteure in Räumen begrenzter Staatlichkeit und untersucht Staatlichkeit als eine Bedingung für die Effektivität von Governance-Leistungen externer Akteure in Tansania und Südafrika.

Im beschaulichen Cambridge zwischen Wissenschaft und Praxis, Humanität und Pragmatimus

Das Lauterpacht Centre for International Law

Das Lauterpacht Centre for International Law

Im altehrwürdigen Cambridge, eine gute Stunde nördlich von London, befindet sich eines der Zentren der Völkerrechtswissenschaft: das Lauterpacht Centre for International Law. 1983 von Sir Elihu Lauterpacht zu Ehren seines Vaters Sir Hersch Lauterpacht gegründet, möchte das Institut einen akademischen Ort schaffen, der die Völkerrechtspraxis rezipiert und selbst prägt. Unser Teilprojekt C8 – Legitimität und Normsetzung im Humanitären Völkerrecht am SFB 700 beschäftigt sich mit Legitimität und Normsetzung im humanitären Völkerrecht und untersucht die internationalen Rechtsetzungsprozesse empirisch und theoretisch-normativ. Da bot ein Aufenthalt von Januar bis März 2016 die einmalige Gelegenheit, den Austausch mit anderen Wissenschaftler/innen zu suchen.

Das humanitäre Völkerrecht wurde auf den Prämissen zwischenstaatlichen Rechts und zwischenstaatlicher Kriege entwickelt. Beide Grundannahmen scheinen heute nicht mehr gegeben: Nichtstaatliche Gewaltakteure prägen die bewaffneten Konflikte unserer Zeit und eine Vielzahl von nichtstaatlichen Akteuren – seien es die bewaffneten Gruppen selbst oder Nichtregierungsorganisationen – nehmen auf informellen Wegen an Rechtsentwicklungen Teil. Kann das geltende Völkerrecht passende Antworten geben? Nachdem sich unser Teilprojekt eingehend mit der Rolle nichtstaatlicher Gewaltakteure und den Möglichkeiten, sie direkt beispielsweise durch Selbstverpflichtungserklärungen in die Normsetzungsprozesse einzubinden, beschäftigt hat, untersuchen wir nun, wie die rechtswissenschaftliche Methode mit relevanter Praxis umgehen kann und dies bereits Anwendung findet.

Das Lauterpacht Centre bot während meines zehnwöchigen Aufenthalts das Forum, das es sich auf die Fahnen geschrieben hat: Einen internationalen Ort, um mit Wissenschaftler/innen aus aller Welt ins Gespräch zu kommen und über ihre und die eigenen Herangehensweisen zu diskutieren. Fast schon legendär sind unter Völkerrechtler/innen die täglichen Kaffeepausen, in denen die Institutsmitglieder und Gäste sich zum freien Gedankenaustausch treffen. Die ersten Wochen des Jahres waren nicht nur für mich aufregend, sondern für das gesamte Institut, denn mit Eyal Benvenisti nahm der neue Direktor seine Arbeit auf. Es bleibt abzuwarten, inwieweit er mit seinem progressiven Ansatz zur global governance das Centre nachhaltig prägen kann.

 Das Lauterpacht Centre zeichnet sich durch seinen Praxisbezug aus. Dies zeigt sich nicht zuletzt an einem der beiden Gebäude des Centres: Das Bahrein House wurde dem Institut einst von Bahrein gespendet – dem Vernehmen nach als Dank für eine erfolgreiche anwaltliche Vertretung durch den damaligen Institutsdirektor in einem Fall vor dem Internationalen Gerichtshof gegen Katar. Für unser Teilprojekt war insbesondere der enge Kontakt des Centres zum Roten Kreuz von Interesse. Zu meiner Zeit war zum einen ein ehemaliger Mitarbeiter des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes (IKRK) zu Gast, der Lehrreiches aus seiner dreijährigen Arbeit mit Konfliktparteien in Afghanistan, Ruanda und der Demokratischen Republik Kongo zu berichten hatte. Zum anderen ist dort das Projekt “Customary International Humanitarian Law” angesiedelt, eine Kooperation des Lauterpacht Centres mit dem Britischen Roten Kreuz und dem IKRK. Das Projekt sammelt weltweit Praxis, um die Gewohnheitsrechtsstudie des Roten Kreuzes zu aktualisieren. In seiner viel beachteten Gewohnheitsrechtsstudie veröffentlicht das Rote Kreuz das gewohnheitsrechtlich anwendbare Recht im bewaffneten Konflikt. Dabei geht es insbesondere darum, welche und vor allem wessen Praxis für die Ermittlung von Völkergewohnheitsrecht erheblich ist. Nach herrschender Völkerrechtstheorie sind die Praxis und Rechtsüberzeugungen (opinio iuris) nur von Staaten relevant. Zunehmend wird aber gefordert, auch die nichtstaatlichen Gewaltakteure zu berücksichtigen, da diese heute – anders als bei der Entwicklung der staatszentrierten Völkerrechtstheorie – eine zentrale Rolle einnehmen. Staaten wehren sich jedoch gegen eine Öffnung, denn sie fürchten, nichtstaatliche Gruppen könnten legitimiert werden und das Monopol souveräner Staaten bei der Rechtsetzung würde untergraben. Das IKRK verfolgt einen klassischen, staatenzentrierten Ansatz und kooperiert mit den nationalen Rotkreuz- und Rothalbmond-Gesellschaften. Gleichzeitig verfügt das IKRK aber über breite Erfahrung und direkte Einblicke in die Tätigkeiten der verschiedenen Gewaltakteure, welche aber für die Gewohnheitsrechtsstudie nicht unmittelbar genutzt werden. Den Mitarbeitern in Cambridge über die Schulter zu schauen und sie im Spannungsfeld zwischen Praxis, Pragmatismus, Wissenschaftlichkeit und humanitären Idealen zu sehen, bot unserem Teilprojekt neue Perspektiven auf die Legitimität der Normsetzung im humanitären Völkerrecht.

Nichtstaatlichen Akteuren eine formale Rolle in Rechtsetzungsprozessen zuzuweisen, scheint derzeit nicht opportun, möchte das Völkerrecht in den aktuell schwierigen Zeiten für Staaten relevant bleiben. Seit jeher reibt sich die Völkerrechtsordnung zwischen Vision und Stabilität auf – für Beides bleiben staatliche Strukturen von primärer Bedeutung. Die Kunst wird wohl vorerst darin liegen, kreativ die hergebrachten Kanäle und Methoden zu nutzen, um den schwerfälligen Dampfer Völkerrecht durch die Gegenwart auch in die Zukunft zu bringen.

Über den Autor:

Anton Petrov ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Teilprojekt C8 – Legitimität und Normsetzung im Humanitären Völkerrecht des SFB700. In diesem Rahmen untersucht er die Rolle und Legitimität von Expertengremien bei der Entwicklung des humanitären Völkerrechts.

Haiti, das permanente Provisorium: Eindrücke aus der Feldforschung

Villa in Petionville, Port-au-Prince

Villa in Petionville, Port-au-Prince

Am 12. Januar 2010 zerstört ein Erdbeben Port-au-Prince, die Hauptstadt von Haiti. Innerhalb von 30 Sekunden sterben mehrere hunderttausend Menschen, mehr als eine Millionen Einwohner/innen verlieren alles. Bereits vor dem verheerenden Beben von 2010 waren sie bekannt, die schlechten Nachrichten aus Haiti, geprägt von Armut und politischer Instabilität. Gewöhnt hat man sich daher an die Bilder von Armut, physischer Zerstörung und wütenden Demonstranten.

Das für diesen Beitrag ausgewählte Foto zeigt jedoch eine andere Realität. Eine Villa, umgeben von parkenden Jeeps, grünen Palmen und Gemäuer. Es ist die Realität internationaler Organisationen (IOs).

In unserem D8 Projekt `Talk and Action´. Wie internationale Organisationen auf Räume begrenzter Staatlichkeit reagieren untersuchen wir die Perspektive internationaler Organisationen (IOs) auf den Staatlichkeit, ihre Wahl von Governance-Aktivitäten sowie die Wahrnehmung ihrer eigenen Rolle. Konkret führte ich in Haiti Interviews mit Mitarbeiter/innen der Weltbank, der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO), des Welternährungsprogrammes (WFP), der Inter-Amerikanischen Entwicklungsbank (IDB) und mit dem Nothilfeprogramm der EU (ECHO) – allesamt IOs, die sich um Ernährungssicherheit bemühen.

Haiti ist das Land in unserem Projekt, welches sowohl bei der Stärke administrativer Kapazitäten, als auch dem Grad des Gewaltmonopols laut Bertelsmann Transformation Index (BTI) am schlechtesten abschneidet. Mitarbeiter/innen der IOs berichten von einer unendlich langen Liste struktureller Defizite des haitianischen Staates. Genannt wurde neben dem Mangel an materiellen Ressourcen auch die Unfähigkeit der Administration, vorausschauend zu planen. Schließlich führten die schwachen Institutionen dazu, dass Bürgermeister/innen und Minister/innen zunächst ihre eigene Klientel bedienen müssten, um sich an der Macht zu halten.

Das Gewaltmonopol in Haiti liegt nicht in den Händen des Staates. Es gibt keine Armee – die VN-Friedenstruppe MINUSTAH sichert nach eigenen Angaben den Frieden. Zum Glück gibt es derzeit keine Rebellengruppe, welche diesen Frieden auf die Probe stellt. Für die IOs stellt das latent eingeschränkte Gewaltmonopol keine Herausforderung dar, da der Zugang zu den Governance-Adressaten gewährleistet werden kann.

Haiti, eine “Republic of IOs”? Nein, nicht mehr. Das Budget der Hilfe für Haiti ist wieder auf das Niveau vor 2010 zurückgegangen. Entgegen des in Haiti recht verbreiteten Narratives von einer ineffizienten, neo-kolonialen Entwicklungshilfeindustrie traf ich auf eine Vielzahl von Expert/innen, die erstens sehr kompetent in ihren Themenfeldern sind, denen zweitens das Wohlergehen der Bevölkerung am Herzen liegt und die sich drittens eine Menge Gedanken darüber machen, welche Maßnahmen nun wirklich zu positiven Ergebnissen führen könnten. Alle IOs, die unser Projekt betrachtet, haben in den vergangenen Jahren umfassende Evaluationen durchgeführt, um ihr Engagement in Haiti nach dem Erdbeben auszuwerten. Es herrschte Konsens zwischen den Organisationen, dass unmittelbar nach dem Beben eine Parallelstruktur zum Staat aufgebaut werden musste, um die Hilfe zu koordinieren. Aus den durchaus selbstkritischen Reflexionen der IOs geht jedoch auch hervor, dass der Übergang von Not- auf Entwicklungshilfe nie wirklich stattgefunden hat. Bis heute ist es für viele eine enorme Herausforderung, die richtige Balance zwischen Solidarität und Souveränität zu finden. Angesichts schwach ausgeprägter staatlicher Strukturen und einer kaum rechenschaftspflichtigen Elite können Governance-Leistungen langfristig nur in Kooperation mit engagierten lokalen Gestalter/innen effektiv erbracht werden. Erste Auswertungen der Feldforschung legen nahe, dass insbesondere IOs mit einem Fokus auf Entwicklung sich zunehmend kreativer Mittel bedienen, um den Aufbau lokaler Kapazitäten zu fördern. Doch auch humanitäre Organisationen versuchen derzeit verstärkt, nicht-staatliche Governance-Instituitonen einzubeziehen. Den IOs ist dabei grundsätzlich klar, dass sie bisweilen auch dort Verantwortung abgeben müssen, wo der Staat sowie nicht-staatliche Akteure sie nicht sofort zu 100% ersetzen können. Nur so kann der Teufelskreis aus Fremd- und Selbst-Entmachtung durchbrochen werden.

Parallel dazu steht jedoch bereits die nächste Notsituation vor der Tür: Die Böden in Haiti sind am Rande der Belastungsgrenze. Wirbelstürme, Flut, Rodungen und der Einsatz von Pestiziden machen ihnen schon seit langem zu schaffen. Nach drei Jahren Dürre in Folge kam es dieses Jahr erneut zu Ernteausfällen. Die IOs bereiten aktuell ihre Nothilfe vor, um den rund eine Millionen Menschen, die voraussichtlich von großer Nahrungsunsicherheit betroffen sein werden, zu helfen. Ohne sie wird es nicht gehen. Noch nicht.

Über den Autor:

Leon Valentin Schettler ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Teilprojekt D8 - 'Talk and Action'. Wie internationale Organisationen auf Räume begrenzter Staatlichkeit reagieren“. Im Rahmen des Projektes führt er Fallstudien zu transnationalen Programmen im Themenfeld Ernährungssicherheit in Lateinamerika (Kolumbien) und der Karibik (Haiti) durch.

Neuerscheinungen aus dem SFB 700

Monographien und Sammelbände

Börzel, Tanja A./Risse, Thomas (Hrsg.) 2016: The Oxford Handbook of Comparative Regionalism, Oxford University Press
  Hönke, Jana/Müller, Markus-Michael (Hrsg.) 2016: The Global Making of Policing. Postcolonial Perspectives, Routledge
  Müller, Markus-Michael 2016: The Punitive City. Privatised Policing and Protection in Neoliberal Mexico, Zed Books
  Risse, Thomas (Hrsg.) 2016: Domestic Politics and Norm Diffusion in International Relations: Ideas Do Not Float Freely, (London: Routledge, forthcoming)
Börzel,Tanja A./Risse, Thomas/Dandashly, Assem (Hrsg.) 2015: Responses to the ‘Arabellion.’ The EU in Comparative Perspective, Special Issue of Journal of European Integration, Vol. 37, No. 1

Ausgewählte Beiträge in Zeitschriften und Sammelbänden

Börzel,Tanja A./Risse, Thomas 2016: Dysfunctional state institutions, trust, and governance in areas of limited statehood in: Regulation and Governance; Vol. 10, 149-160, DOI:10.1111/rego.12100

Esders, Stefan 2016: Gallic Politics in the Sixth Century, in: Alexander Callander Murray (Hrsg.): A Companion to Gregory of Tours, Brill. 429-461

Großklaus, Mathias/Remmert, David 2016: Political steering: how the EU employs power in its neighbourhood policy towards Morocco, in: Mediterranean Politics, March 2016, DOI: 10.1080/13629395.2016.1163783

Kötter, Matthias 2016: Better Access to Justice by Public Recognition of Non-State Justice Systems?, in: Peter Collin (Hrsg.): Justice without the State within the State. Judicial Self-Regulation in the Past and Present, Klostermann. 283-310

Müller, Markus-Michael 2016: Penalizing Democracy: Punitive Politics in Neoliberal Mexico, in: Crime, Law & Social Change, 65 (3), 227-249

Schuppert, Gunnar Folke 2016: Von der Pluralität normativer Ordnungen zur Pluralität ihrer Durchsetzungsregime. Jurisdiktionsgemeinschaften und ihre je spezifische Jurisdiktionskultur, in: Peter Collin (Hrsg.): Justice without the State within the State. Judicial Self-Regulation in the Past and Present, Klostermann. 13-50

SFB Working Paper Series

van Hoof-Maurer, Lisa/Linke-Behrens, Luisa 2016: External Authority: A Compensation of Limited Statehood in the Provision of Collective Goods, Juli 2016.

Lee, Melissa/Walter-Drop, Gregor/ Wiesel, John 2016: The Pillars of Governance. A Macro-Quantitative Analysis of Governance Performance, Mai 2016

Livingston, Steven 2016: Digital Affordances and Human Rights Advocacy, März 2016

Impressum

Kontakt

Freie Universität Berlin
Sonderforschungbereich (SFB) 700
Alfried-Krupp-Haus Berlin
Binger Str. 40
14197 Berlin
Germany

Tel.: +49-30-838 58502
E-Mail: sfb700@fu-berlin.de

Web: www.sfb-governance.de
Redaktion: Eric Stollenwerk/Julius Neu

Leitung des SFB 700

Sprecher: Prof. Dr. Thomas Risse
Sprecher: Prof. Dr. Stefan Rinke
Wiss. Geschäftsführer: Eric Stollenwerk, M.A.

Forschungsprogramm des SFB 700

Governance ist zu einem zentralen Thema sozialwissenschaftlicher Forschung geworden. Der SFB 700 fragt nach den Bedingungen von Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit, d.h. in Entwicklungs und Transformationsländern, zerfallen(d)en Staaten in den Krisenregionen der Welt oder, in historischer Perspektive, verschiedenen Kolonialtypen.

Die Hauptforschungsfragen des SFB 700 sind:
Unter welchen Bedingungen entsteht effektives und legitimes Regieren in Räumen begrenzter Staatlichkeit?
Welche Probleme gehen damit einher?
Welche Auswirkungen kann eine so verstandene Governance auf nationale und internationale Politik haben?

Der SFB 700, gefördert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), hat seine Arbeit 2006 aufgenommen.
 

Partnerorganisationen des SFB 700